Tausende kommen jeden Tag als Touristen nach Paris. Millionen haben über Paris geschrieben. Milliarden Fotos kursieren auf Instagram oder Facebook.
Was soll man noch schreiben?
Gibt es etwas Neues zu berichten?
Nein!
Es sei denn über das Bild des alten Juden, dass an der Wand unserer Wohnung im zweiten Arrondissement hängt. Ein graubärtiger Mann mit Nickelbrille, der – es ist nicht zu erkennen – einen Faden in eine Nadel einzufädeln scheint. Er schaut nach oben, gegen das Licht. Seine Hände hält er direkt vor seine Gesicht, fast wie zum Gebet erhoben. Er ist sehr konzentriert. Pointilistisch wirkt es, aus lauter winzigen Punkten. Ein schönes Bild, dass unsere Wohnungstauschpartnerin gehört und in ihrem Wohnzimmer aufgehängt hat. Für mich ist es das aufregendste Bild in der kleinen Wohnung, wo wir zehn Tage verbringen dürfen. Es ist ein altes Haus, in diesem sehr alten Viertel, dass bereits seit dem 16. Jahrhundert existiert. Vor der Tür tobt das Leben, ein Café rechts, ein Café gegenüber, Dutzende Restaurants, Geschäfte, Supermarché um die Ecke.
In der Zeit unseres Aufenthalts lebt Héléne in unserer Wohnung in Berlin, die sicher doppelt so groß wie die in Paris, aber weiter weg vom turbulenten Leben.
Vor einigen Jahren erzählte mir ein Mann, dass in Paris das Gerücht kursiere, man könne sich in Berlin Wohnungen leisten, wo man Tische mit acht Stühlen aufstellen kann. Wir haben einen Tisch mit zehn Stühlen. Aber die Zeiten haben sich auch in Berlin geändert, noch sind wir aber weit von Pariser Verhältnissen entfernt.
In der kleinen Pariser Wohnung hat Héléne mit ihrem Partner gelebt. Er ist tot. Sie ist Juristin. Irgendwie ist sie mit Rosa Luxemburg verwandt. Ich kenne sie nicht, aber sie ist mir sympathisch. Wenn man das Wohnzimmer einer Unbekannten betritt, dann betritt man das Museum ihres Lebens.
Wir fühlen uns wohl hier. Das Wohnzimmer – eigentlich eine Wohnküche – ist gemütlich. Ein rotes Sofa beherrscht den Raum. Bilder, Bücher, ein Tisch, vier Stühle, eine Dantefigur auf dem Kaminsims. Eine uralte Holzbalkendecke über uns. Oben drüber spielt manchmal jemand Klavier, es klingt schön. Es ist kein Meisterpianist, aber auch keine Dilettantin. Es wiegt einen in den Schlaf. Im Schlaf, wenn man das Ohr auf die Matratze legt, hört man ganz leise das Rattern der Metro, die in der Nähe vorbeifährt. Wenn ich Nachts wach werde, stelle ich mir vor, wie sich dieser hell erleuchtete Wurm mit den Menschen durch den dunklen Untergrund bewegt.
Das Schöne an diesem Aufenthalt ist, dass wir keinen Stress haben. Wir müssen keine Baedeker Sterne abarbeiten. Wir gehen vor die Tür, kaufen Lebensmittel ein, trinken Café, fallen zufällig in eine Ausstellungseröffnung, machen einen Nachmittagsschlaf. Abends kochen wir oder gehen essen. Wie es uns gefällt. Der Louvre ist nicht weit. Das Centré Pompidou noch näher.
Im Louvre erstaunt uns, wie viele Menschen sich vor der Mona Lisa drängeln, aber andere Meisterwerke von Leonardo, Raphael oder Caravaggio kaum eines Blickes würdigen.
Das Leben ist anders hier. Es scheint als lebe man mehr in der Öffentlichkeit, im Café, im Restaurant, im Park, vermutlich auch, weil es hier weniger Wohnungen gibt, wo man einen Tisch mit acht Stühlen aufstellen kann.
auch interessant: Herr K. und das Reisen – Peter K.