Kategorien
...erzählt

Nuris Wut (10)

Nuri lächelt (1)

Nuris Scham (8)

Nuris offene Frage (9)

„Wir müssen uns treffen. Wann kannst Du?“, fragt Nuri in einer WhatsApp an Petr.

Sie verabreden sich am nächsten Tag in einem Kaffee am Markt. Petr ist als Erster da. Nuri lächelt nicht, als er kommt. Nach einer dieser merkwürdig distanzierten Umarmungen plaudern sie ein wenig, aber Petr spürt, dass etwas los ist.

Er fragt.

Und dann fliegen ihm die Splitter einer emotionalen Explosion um die Ohren.

Petr versteht nichts, außer der Wut. Nuris Wut. Nuri ist plötzlich ein Fremder. Nicht mehr der freundliche Junge von nebenan. Da brodelt ein Vulkan aus Gewalt und Zorn und Verzweiflung. Ein ähnlicher Zustand wie Petr ihn bei den jungen afghanischen Männer vermutet, die mit Messern durch die Straßen laufen, um auf jemanden einzustechen.

Wie kann das sein? Was ist mit Nuri passiert?

Es sind nur wenige Fragmente, die Petr versteht. Der Vater. Die Taliban. Sie stellen den Vater vor Gericht und wollen ihm sein Vermögen stehlen. Sie verfolgen ihn. Sie quälen den schwer kranken Mann. Nuri will eine Waffe und nach Afghanistan fahren und sie umbringen. Töten. Er will den von ihm selbst zutiefst verachteten Vater rächen.

Das ist es, was Petr aus den spärlichen Puzzleteilen zusammensetzen kann. Es ist ein Bild, von dem er nicht sicher ist, ob dieses Bild überhaupt etwas mit der Realität zu tun hat.

Aber der Zorn ist da. Klar und eindeutig. und Herr Petr fragt sich, ob dahinter nicht eine viel größere Wut steckt.

Nuri sagt immer: „Deutschland ist ein großartiges Land“. Er lebt in diesem Paradies. Seine Mutter, seine Schwester, sein Bruder, sein Vater aber leben in der Hölle.

Macht ihn das so verzweifelt?

Hat er Schuldgefühle? Schuldgefühle wie die Holocaustüberlebenden, die darunter leiden, dass sie leben, während die anderen sterben mussten?

Oder ist es ein tiefsitzendes Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn Qen? Eine Mentalität, die tief verankert ist in seiner Religion, eine Religion, die die Brutalität des Lebens in der Wüste in sich aufnahm. Aufnehmen musste.

Oder sind es diese unsichtbaren Bande der Familie, die alles umschlingen und erdrücken und die selbst tausende Kilometer entfernt noch wirken, wie die Fäden der Marionette an denen er baumelt?

Oder ist es der Zorn darüber, dass es nicht möglich ist, aus Afghanistan ein ebensolches Paradies zu schaffen wie hier. Und warum ausgerechnet geht das in Deutschland, obwohl hier die Ungläubigen leben?

Oder ist es die Vorstellung, dass nur der Westen für das Unglück armer Länder verantwortlich ist? Vielleicht alles zusammen.

Petr ist entsetzt, denn auf ihn wirkt Nuri nun wie einer der jungen, afghanischen Messerstecher. Nuri macht ihm Angst.

Erst versucht Petr Nuri zu beruhigen. Aber Nuri ist in einem Tunnel. „Ich mache das und dann komme ich zurück.“

Petr erklärt Nuri, dass er dummes Zeug redet, dass er in Deutschland auch für Taten im Ausland bestraft werden kann, dass er seine Zukunft zerstöre. Er redet auf ihn ein. Immer und immer wieder.

Alles vergebens.

Irgendwann platzt Petr der Kragen, er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und sagt: „Nuri, ich erkenne dich nicht wieder. Wenn Du nicht aufhörst, gehe ich, dann können wir nicht befreundet sein. Das geht nicht. Du bis in einem Wahn. Komm zurück in die Realität“.

Erst da beruhigt sich Nuri.

Was passiert ist, beschäftigt Petr lange. Bei allen folgenden Treffen ist Nuri wieder der Alte. Charmant, neugierig, freundlich, lächelnd, zuvorkommend. Die andere Seite taucht nicht auf. Eines ist Petr klar: Auch in Nuri schlummert etwas Unsteuerbares.

Wie bei jedem von uns.

Kategorien
...erzählt

Nuris offene Frage (9)

Nuri lächelt (1)

Nuris Verzweiflung (7)

Nuris Scham (8)

Nuri will eine Familie. Er will fünf Kinder, ein Haus, ein schönes Auto, einen angesehenen Beruf und er will reisen. Das ist sein Traum, der Traum vom Leben eines Bürgers. Ein nachvollziehbarer Traum, ein Traum wie ihn viele Flüchtlinge haben und die meisten wohl nicht erreichen werden, jedenfalls nicht in der ersten Generation.

Bei Nuri kommt jedoch ein Problem hinzu. Nie taut eine Frau in seinem Leben auf. Mehrfach fragt Petr, wie es ihm denn mit den Frauen gehe, aber die Antworten bleiben vage. ‚Er müsse erst die Richtige kennenlernen‘, behauptet er, womit er vermutlich meint, dass die Richtige, die für die sechs Kinder ist. Das er es mit dieser Einstellung in Europa schwer haben wird, eine Partnerin zu finden, versucht Petr dem jungen Mann klar zu machen und außerdem mahnt er ihn, er sollte seine Jugend nicht verschwenden. Aber nichts geschieht. Kein Sex in Sicht.

Natürlich hat Nuri die europäischen Flirtregeln nicht lernen können. Es ist diese hochdiffizile Art der minimalen Annäherung, die kulturell tradiert ist: Das sich in Blickrichtung aufstellen. Der erste Augenkontakt. Das schnelle Wegschauen. Die sofortige Überprüfung der Reaktion durch einen zweiten hingeworfenen Blick. Blicke. Irgendwann ein kleines Lächeln. Das wiederholte Lächeln, um Klarheit zu schaffen. Das Warten auf die herbeigeführte Gelegenheit miteinander in Gespräch zu kommen. Das Plaudern. Die Komplimente. Die zufälligen Berührungen, die den Bruchteil einer Sekunde zu lang sind, um zufällig zu sein. Das vorsichtige Eindringen in den Distanzbereich als Indikator für Einverständnis. All das immer wieder unterbrochen von Zwischendistanzierungen und Rückschlägen, meist initiiert vom weiblichen Part, was ein Zeichen von Unsicherheit oder eine bewusste Aufreizung des Gegenübers sein kann. All dies muss man lesen können, um schließlich bei einem Blick, der zu lang ist, um nicht im ersten Kuss zu enden, die Antwort zu finden.

Das ist ein komplizierter, langwieriger Prozess, der gelernt werden will. Dafür hatte Nuri in Kabul keine Gelegenheit. Dort läuft das anders. Seit Jahrhunderten. Da verhandeln die Eltern über die Ehe. In Kabul wird eine andere Sprache gesprochen. Manche mögen einwenden, dass diese Sprache auch in Europa erst seit kurzer Zeit gesprochen wird, aber das ist ein Irrtum, denn das Ganze fand früher so oder so ähnlich in der Kirche statt. Bei Romeo und Julia kann man es nachlesen.

Nuri aber hat diese Techniken nicht lernen können und muss sich bei diesem Spiel vorkommen wie ein Wüstenbewohner auf Schlittschuhen. Diese Unfähigkeit wäre eine plausible Erklärung für seine Zurückhaltung, aber der Trieb ist stark. Der Trieb muss irgendwohin. Selten hält die Moral den Trieb dauerhaft in Schach.

Einmal – viel später – sagt Nuri lachend zum Thema: „Ich habe Angst“.

Wovor hat er Angst?

Und selbst wenn die Angst groß ist, Sex hat so viel Macht, dass sie fast alle Ängste überwindet.

Erst während des Gerichtsprozesses nimmt ein anderer Gedanke bei Peter immer größeren Raum ein. Ist es nicht erstaunlich, dass Nuri auffällig die Nähe zu ihm und seinem Partner sucht? Homosexualität ist in der islamischen Kultur verpönt. In einigen islamischen Ländern steht darauf die Todesstrafe, genau deshalb hatte Petr anfangs gezögert, Nuri zu erzählen, dass er mit einem Mann verheiratet ist. Er befürchtete, dass Nuri negativ reagiert. Aber Nuri nahm bei Besuchen Petr und seinen Partner völlig selbstverständlich wahr und nach einiger Zeit war klar, dass Nuri die Situation durchschaute, auch wenn es keiner thematisierte.

Konnte es sein, dass Nuri sich den Sex mit Männern ersehnte? Gerade die Ausrede von Nuri, dass er auf die „Richtige“ warten würde, erinnerte Peter an seine eigene Jugend, als er genau dieses Argument vorschob, um sich nicht seiner eigenen Sexualität stellen zu müssen.

Petr äußerte schließlich seinen Verdacht gegenüber der freundlichen Rechtsanwältin Nuris und die sagte spontan: „Ja, das könnte passen, so charmant, wie der ist, würde das einiges erklären“.

Natürlich war sich Petr unsicher, aber gerne wollte er versuchen dem jungen Mann über eine Klippe helfen, die ihm selber so sehr im Weg gestanden hatte. Also lud Petr Nuri zu einem Spaziergang durch den Park von Sanssoucis ein.

Dort gingen sie erst zum Grab von Friedrich dem Großen. Petr erzählte Nuri die Legende, warum noch heute Menschen Kartoffeln auf seinem Grab ablegen. Diese von Generation zu Generation weitergegebenen Legenden gehen ins kollektive Gedächtnis einer Kultur, eines Landes ein, wobei sie sich im Laufe der Jahrhunderte mit Stolz oder Scham oder einem anderen tiefen Gefühl aufladen und sich als Qen in der kulturellen Identität des Individuums verankern.

Nuri hat dieses Kartoffelgeschichten Qen nicht. Für ihn ist es eine Geschichte. Bei ihm schwingen die Jahrhunderte nicht mit. Nuri hat andere Qene.

Später nun, beim Gang durch die große Mittelallee begann Petr von sich zu erzählen und hoffte damit einen Weg zu öffnen, von dem er annahm, dass Nuri ihn nicht zu gehen wagt. Es war die Geschichte seines eigenen mühsamen und angstvollen Coming out. Nuri hörte zu. Aber Peters Erzählung blieb Monolog. Keine Frage unterbrach ihn. Kein „oh“ oder „ohje“ drückte Mitgefühl aus. Petr sprach in einen leeren Raum. Zurück blieb ein Rätsel, dass in den folgenden Monaten immer größer wurde.

„Weißt du“, sagt Nuri bei einer späteren Gelegenheit, „ich kenne nur solche Leute wie euch“, womit er schwule Männer meint und schiebt nach: „Das ist irgendwie komisch.“

Fortsetzung Nuris Wut (10)

Kategorien
...erzählt

Nuris Scham (8)

Nuri lächelt (1)

Nuri und der Rechtsstaat (6)

Nuris Verzweiflung (7)

Dank eines Zufalls hatte Nuri eine neue, sympathische und vor allem interessierte Anwältin gewinnen können. Sie führte viele Gespräche mit Nuri und stöhnte später, hinter vorgehaltener Hand: „Die vielen Stunden, die ich dem zugehört habe, bezahlt mir keiner.“

So ging es in die zweite Runde des Prozesses. Die Atmosphäre – zumindest für die Zuschauer – angenehm entspannt. Die Richterin freundlich und zugewandt. Die Aussichten trotzdem düster.

Nuri bestand darauf, alle Fragen auf Deutsch zu beantworten. Die Übersetzerin half nur wenige Male. „Ungewöhnlich“, sagt die Richterin in einer kleinen Verhandlungspause, „alle nutzen die Muttersprache.“

Und Nuri erzählt.

Er erzählt von seiner Familie. Wie er aufwuchs im Iran, bevor die Familie nach dem Einmarsch der Amerikaner wieder nach Kabul zurückkehrte. Er erzählte von seinem verschwundenen Großvater und dessen Rolle in Afghanistan. Er erzählt, wie sein Vater ihn verstoßen hat. Dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat, außer zu seiner Schwester. Dass er in Deutschland gearbeitet hat, bis er zufällig hörte, dass er hier das Abitur nachmachen kann. Dass er jetzt begonnen hat zu studieren.

Er erzählt, wie er seinem Vater, den Predigern und auch in den Seminaren der Kabuler Universität ständig widersprach. An der Rolle der Religion zweifelte. Er erzählt, dass manche Mitstudenten ihn Abends auf dem Nachhauseweg verprügelt haben. Er erzählt, dass ein General der Regierung seine schützende Hand über ihn gehalten habe, der aber später abgesetzt wurde und ihn nicht mehr schützen konnte.

Er erzählt von den Wachtürmen, die am Haus der Familie und der religiösen Stiftung seines Vater errichtet worden waren.

Er erzählt, wie ihm die Wachen mit ihren Kalaschnikows Angst machten.

Er erzählt, wie er verfolgt wurde von Männern., wenn er nach Hause ging.

Er erzählt, dass die Kabuler Straßen nach Einbruch der Dunkelheit leer sind.

Und er berichtet von seiner Entführung.

Wie auf dem Nachhauseweg ein japanisches Auto mit drei Männern neben ihm hielt, die Männer heraussprangen und ihn in das Auto warfen. Sie fuhren mit ihm durch die leeren Straßen, bedrohten ihn, verlangten sein Handy. Sie schlugen ihn. Sie traten ihn. Sie hielten ihm die Pistole an die Schläfe und dann warfen sie ihn an irgendeiner Straßenecke aus dem Fahrzeug.

An dieser Stelle griff die Anwältin ein: „Und während der Entführung wurde mein Mandant vergewaltigt.“

Stille legte sich über den Raum. Nuri. Zusammengesackt, schlägt die Augen nieder.

Die Richterin zu Nuri gewandt: „Stimmt das?“

Sein unmerkliches Nicken war mehr zu erahnen, als zu beobachten.

„Bestätigen sie das, was ihre Anwältin gerade gesagt hat?“, hakt die Richterin klar aber feinfühlig nach. „Sie müssen das sagen.“

Nuris Scham ist mit Händen zu greifen.

Er quält einen Laut über seine Lippen, den die Richterin wohlwollend als ein „Ja“ interpretiert.

Später erklärt die Anwältin, dass solche Vergewaltigungen keine Einzelfälle sind.

Nuri erhält kein Asyl, aber Nuri erhält ein Bleiberecht. Er wird nicht abgeschoben. Er kann hier bleiben, er bekommt Bafög. Er kann studieren.

Fortsetzung am 8.6.2024: Nuris offene Frage