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Nuri kämpft (3)

Bisher erschienen
Nuri lächelt (1)
Nuri liest (2)

Nuri wohnt in einem Flüchtlingsheim. Seit fünf Jahren. Er hat aufgegeben eine Wohnung zu suchen. „Es macht keinen Sinn. Ich lerne lieber. Ich stehe morgens um fünf Uhr auf und lerne, dann mache ich meinen Sport und dann fahre ich in die Schule. Es ist schrecklich in der Unterkunft“, erzählt er lächelnd, „aber dieses Land ist ein großartiges Land“, und wird ernst dabei. „Ich will studieren. Mathematik. Ich will ein Haus und fünf Kinder.“

Einer von Nuris Onkel, vor vielen Jahren ebenfalls geflüchtet, lebt in der Nähe des Bodensees, ist Arzt, hat ein Haus, drei Kinder und einen Hund. Nuri zeigt dem Lehrer Fotos. Es sieht nach bürgerlichem Wohlstand aus. Das ist Nuris Traum. Eine heile Welt in einem großartigen Europa. Der Traum treibt ihn an.

Die Flüchtlingsunterkunft ist keine heile Welt.

„Ich mache viel Sport. Kampfsport. Ich will meine Freunde beschützen, wenn sie angegriffen werden.“

Nuri ist ein zart gebauter, mittelgroßer Mann. Seine Bewegungen sind geschmeidig, aber wirken, als erwarte er jeden Augenblick einen Angriff. Voller Körperspannung. Ein wenig militärisch. Nicht aggressiv, aber wachsam. Sprungbereit. Seine Umarmungen bei der Begrüßung sind wie nebensächlich, wie in die Ecke geworfen.

„Ich muss stark sein. Wenn ein Freund angegriffen wird von einer anderen Person und du stehst dabei, dann musst du helfen. Dann musst du für ihn kämpfen, selbst wenn es fünf gegen zwei sind. Man darf ihn nicht allein lassen, selbst wenn es mich mein Leben kostet. Das ist meine feste Überzeugung.“

Diese Bemerkung lässt die Umrisse des riesigen Eisbergs auftauchen, mit denen Nuri zu kämpfen hat. Eintausenddreihunderteinundvierzig Jahre ist es her, dass sich der Urvater der Schiiten, Hussein, mit einundsiebzig Gefolgsleuten in die Schlacht von Kerbela aufmachte. Ihnen standen zehntausend Krieger gegenüber. Dieser aufopfernde, aber ziemlich idiotische Heroismus, ist seitdem das Symbol der Schiiten für den Kampf des Guten gegen das Böse. Dieser symbolische Wahnsinn ist über Jahrhunderte in Nuris Kopf eingesickert und prägt sein Denken. Seine Vorstellung von der Welt. Er will gut sein und Gutsein verbindet er mit dem Märtyrertod. Das ist gar nicht so unähnlich dem, was fast zweitausend Jahre Christentum im Kopf des Lehrers angerichtet haben. Im aufopfernden Leid berühren sich die beiden Welten, dennoch sind sie einander völlig fremd.

Natürlich ist es auch die Jugend, die aus Nuri spricht. Der Lehrer kennt das, auch er hat in seiner Jugend voller Überzeugung für eine gute Sache gekämpft. Damals hat er noch nicht ahnen können, dass Überzeugungen weitaus schlimmer sind als Lügen. Um das zu erkennen, braucht es Zeit und Schmerz.

Ob Nuri das gelingt? Der Lehrer hat Zweifel. Aber Nuri sucht. Das spürt er.

Fast vierzig Jahre liegen zwischen Lehrer und Schüler, vielleicht einer der Gründe weshalb zwischen ihnen Nähe und Vertrautheit entstehen kann. In Nuris Kultur gilt das Alter mehr. Es ist erstrebenswert alt zu sein. Dann ist man Patriarch. Weise. Respektsperson. Dort will er hin.

Nuri redet. Ihm läuft der Mund über. Außer dem Lehrer hat er niemanden, mit dem er die Fragen besprechen kann, die seinen Kopf bedrängen. Er kämpft mit seiner Vergangenheit. Mit seiner Familie. Mit seiner Kultur. Mit Deutschland. Mit Europa. Mit der Welt.
Aber vor allem – mit sich selbst.

Noch weiß er nicht, dass dieser Kampf der schwerste von allen ist.

Fortsetzung Nuris Wohnung (4)

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Nuri liest (2)

Bisher erschien:
Nuri lächelt (1)

Wieder sitzen Lehrer und Schüler zusammen. Wie kann man Deutsch verstehen? Nein, grundsätzlicher: Wie kann man eine Sprache verstehen? Nuri lernt die Wörter, Nuri lernt die Grammatik, Nuri liest die Sätze. Was versteht er? Jeder Satz ist ein Eisberg. Nuri bewegt sich auf der glänzenden Oberfläche. Sie ist glatt und gewaltig. Nur mit Mühe kann er sich auf den Beinen halten. Überall lauern Spalten und Abgründe. Gefährliche Kanten. Schluchten. Beim Versuch, sie zu überwinden, stürzt er ab und er ahnt noch nicht, dass der größte Teil dieses Brockens unterhalb der Wasseroberfläche liegt. Jedes Wort hat tausende Nuancen.

Was heißt das? Die Worte allein sind es nicht. Nuri kennt Elefanten von Fotos oder aus dem Fernsehen. Vielleicht hat er sogar einmal eines auf einem Karussell in Kabul gesehen. Auch in Kabul gibt es Karussells. Aber weiß er, dass dieses Karussell in Paris steht? Im Jardin de Luxembourg? Seit mehr als 100 Jahren? In der Stadt des Lichts. Der Pracht. Des Bürgertums, das am Sonntag die Familie ausführt zum Sonntagsspaziergang. In Sonntagskleidung. Zum Sehen und Gesehen werden. Im Jardin du Luxembourg.

Weiß Nuri, dass das Lächeln „ein seliges, das blendet und verschwendet“ nicht das Seine ist? Selbst ‚dann und wann‘ war dieses Lächeln nie Seines.

Er brauchte sich auch nicht wie Herr Keuner umzusehen, um zu wissen, das die Gewalt hinter ihm stand. Sie stand nicht nur hinter ihm, sie stand auch vor ihm. Und neben ihm. Sie war sein Begleiter. Und er diente ihr wie Herr Egge. Nur länger. Nicht sieben auch nicht zwölf, sondern zwanzig Jahre diente er der Gewalt. In seinem Fall nutzte es nichts, das Lager zu waschen und die Wände zu tünchen, es war sinnlos, denn die Gewalt, anders als bei der Geschichte mit Herrn Egge, starb nicht.

Wie kann Nuri verstehen, was das „Nein“ des Herrn Egge bedeutet? Man kann es nur verstehen, wenn man Hoffnung hat. Hatte Nuri Hoffnung?

Nuri hat oft „Nein“ gesagt, aber nicht geschwiegen. Nuri hatte den Mut besessen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Ihm fiel das leichter als Anderen. Er war Außenseiter. Er gehörte zu einer Minderheit. Seine Familie, eine traditionelle und mächtige Familie, gehört zu den wichtigsten schiitischen Familien des sunnitischen Landes. Seit Jahrhunderten. Sein Großvater war ein bedeutender schiitischer Geistlicher in Afghanistan. Er verschwand, als die Russen ihn holten. Man hat nie wieder von ihm gehört. Die Familie flüchtete in den Iran. Dort ist Nuri geboren. Als die Russen Afghanistan verlassen hatten, kehrte die Familie nach Kabul zurück. Nuris Vater übernahm das Amt des Großvaters, die Leitung einer schiitischen Stiftung, einer Moschee, einer Koranschule. Nuri sollte sein Nachfolger werden.

Nuri zeigt dem Lehrer ein Foto aus Afghanistan. Einige Männer hocken, in traditioneller Kleidung auf dem Boden. Der Lehrer erkennt Nuri darauf nicht. Ein langer Bart entstellt sein Gesicht. Es ist ein ernstes Bild. Es ist nicht Nuri, den er, der Europäer, dort sieht. Es ist ein Fremder inmitten von Fremden. Der Betrachter kann die Zeichen, die Symbole dieses Bildes genauso wenig entschlüsseln, wie Nuri die Zeilen des Gedichtes. Das Bild macht ihm, dem Europäer, Angst.

Das ist Nuri? Er sieht aus wie ein islamischer Fanatiker!

Der Lehrer erkennt auf dem Foto etwas anderes: die Erstarrung dieser Kultur. Der verzweifelte, hoffnungslose Versuch alter Männern, eine Vergangenheit festzuhalten, die von Flugzeugen, Raketen, Autos, Fernsehern und Handys attackiert wird, diesen modernen Dingen, die in ihre Kultur eindringen und denen sie nichts entgegensetzen können, weshalb sie die Brandmauern des Glaubens und der Tradition immer höher ziehen.

Und dazwischen sitzt Nuri. Ein Zweifelnder?

Kann das sein? Kann man die Macht der Kultur, die Macht der Jahrhunderte, die Macht der Familie abgelegen, wie Nuri seinen Bart?

Erst wenn das gelingt, so denkt der Lehrer, würde Nuri die Bedeutung der Worte Rilkes oder Brechts verstehen können. Der Lehrer spürt, dass er an Grenzen stößt. Als Europäer hat er gelernt in Metaphern, Gleichnissen, Parabeln zu denken, so haben es die Bibel und Jesus von Nazareth seiner Kultur seit Jahrtausenden mit auf den Weg gegeben: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das Gleichnis des barmherzigen Samariters, das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Diese seit Jahrhunderten eingeübte Tradition hat sich in seinem Kopf festgesetzt. Er hat gelernt, in Bildern zu denken. Er hat gelernt, die Wahrheit hinter den Worten zu suchen. Erst hinter den Worten, so hat es ihm seine Kultur eingebläut, liegt die Wahrheit. Diese Wahrheit gilt es zu finden.

Nuri hat etwas anderes gelernt. Die Worte sind die Wahrheit. Sie kommen von Gott. Es gibt keine Interpretation. Es gibt keine Wahrheit hinter den Worten. Deswegen versteht er nicht, dass hinter Herrn Keuner plötzlich ‚die Gewalt‘ steht.

„Wie kann die Gewalt dort stehen?“, fragt er, wie ein fünfjähriges Kind.

Verständlich, dass Nuri sich zu einer anderen Sprache hingezogen fühlt. Es ist die Sprache der Mathematik. Diese Sprache versteht er. Da gibt es keine Wahrheit hinter den Zeichen. Diese Sprache ist logisch, klar, beweisbar.

Die Mathematik ist Wahrheit.

So wahr wie der Koran.

Fortsetzung: Nuri kämpft