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Rom oder ‚Die Kunst des Reisens‘

Sandro Botticelli: Giuliano de' Medici

Reisen ist eine Kunst, die kaum noch beherrscht wird. Reisen bedeutete einmal mit anderen Menschen, mit anderen Kulturen, mit anderen Verhaltensweisen in Kontakt kommen, andere Eindrücke sammeln, um die Vielfalt und die Schönheit der Welt zu erleben.

Diese Form ging verloren, indem das Reisen durchorgansiert wurde. Kontakte kommen maximal mit dem Kellner im Restaurant oder der einheimischen Reiseführerin zustande und das wird als pars pro toto angesehen. Fremde Verhaltensweisen werden mehr kopfschüttelnd als neugierig zur Kenntnis genommen. Selbst der sogenannte Individualreisende, der gerne auf die Pauschalreisenden herabschaut, kann diesem Dilemma nicht entkommen.

Umso wichtiger erscheinen mir deshalb die kleinen Beobachtungen, irritierende Momente, die Überraschungen der Straße. Bei unserem Besuch in Rom zum Beispiel wurde mir sehr klar welche Bedeutung die Religion, der Katholizismus für viele Menschen hat. Im atheistischen Berlin spielt Religion eine untergeordnete Rolle und ist praktisch nicht sichtbar, die Kirchen sind leer. In Rom ist das anders. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Priester gesehen. In fast jedem Restaurant saß eine Gruppe von ihnen.

Pilger aus ganz Europa, Äthiopien, Peru oder Nigeria zogen in großen Gruppen durch die Stadt. Im Petersdom knieten Dutzende vor dem Grab von Papst Johannes II und beteten. Zweimal gerieten wir in eine Heilige Messe, wo es keinen freien Platz mehr gab und in einer dieser Kathedralen machte ich eine flüchtige, zutiefst beeindruckende Beobachtung.

Ein Zufall, ein Augenblick. In der Basilika Santa Maria Maggiore. Am Sonntagmorgen.

Die riesige Kathedrale ist überfüllt. Alle Sitzplätze sind von Gläubigen besetzt und in den Seitenschiffen drängen sich die Touristen, während vorne eine Zahl prächtig gewandeter, katholischer Zeremonienmeister ihre Rituale absolvieren. Einer stellt ein Gefäß von rechts nach links, spricht einen Zauberspruch darüber, um das Gefäß dann wieder von links nach rechts zu stellen. Diese Rituale, vor zweitausend Jahren entstanden, von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergegeben und kaum verändert, haben sich tief eingebrannt in Körper und Geist der Gläubigen und dienen, wie alle Rituale, der Selbstvergewisserung.

Auch mich, obwohl Agnostiker und in der Regel kopfschüttelnd-spottend über diesen Irrationalismus, erfasst ein Schauer, wenn die Gemeinde betet, alle sich gleichzeitig erheben oder zusammen singen. Es ist das Gemeinschaftserlebnis, wie im Fußballstadion, wie bei einer Technoparty oder in den besten Momenten im Theater. Alle atmen im gleichen Rhythmus und bewegen sich im gleichen Takt, das Individuum verliert seine Individualität und wird zur Masse und die Masse wird zum Subjekt, im schlimmsten Fall zur Meute.

Inmitten dieser Masse stehe ich staunend im rechten Seitenschiff als ich im Augenwinkel mitbekomme, wie sich der Vorhang eines Beichtstuhls öffnet. Heraus tritt ein junger Mann, kein Kind mehr, aber noch nicht Mann. Vielleicht fünfzehn Jahre alt. Eine auffallende Schönheit, ein klares Gesicht, sehr schlank und hochgewachsen, mittelblonde, leicht gelockte Haare, die bis zur Schulter herunterfallen. Er trägt einen maßgeschneiderten, beigen Anzug, ein weißes Hemd, alles perfekt gebügelt, dazu eine dunkelblaue, formvollendet gebundene Krawatte und sündhaft teure Lederschuhe. Ein paar Schritte bewegt er sich durch das Gedränge, bis er vor einem der Nebenaltäre auf die Knie sinkt und ein Gebet spricht, bevor er sich wieder erhebt und dem Ausgang entgegenstrebt.

Das wars.

So unbedeutend die Szene war, erschien sie mir wie aus einer verlorenen Zeit. Marcel Proust oder Boccaccio hätten die richtigen Worte dafür gefunden, für Thomas Mann wäre der Junge ein Vorbild für den Tadzjo gewesen und ein auferstandener Visconti würde den ‚Tod in Venedig‘ heute mit ihm drehen wollen.

Nein, es war nicht die Schönheit dieses Jungen, die mich faszinierte, sondern der Ernst und die Selbstsicherheit, der Stolz und die Gewissheit einer Gesellschaftsklasse, die dieser Junge in jeder Faser seines Leibes mit sich trug. Diese Klasse ist sich sicher, dass sie auch noch in Generationen Einfluss auf die Geschicke Roms nehmen wird.

Vor Jahrhunderten hat Botticelli solche Personen gemalt.