Nuri lächelt (1)
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Nuris Verzweiflung (7)
Nuris Scham (8)
Nuri will eine Familie. Er will fünf Kinder, ein Haus, ein schönes Auto, einen angesehenen Beruf und er will reisen. Das ist sein Traum, der Traum vom Leben eines Bürgers. Ein nachvollziehbarer Traum, ein Traum wie ihn viele Flüchtlinge haben und die meisten wohl nicht erreichen werden, jedenfalls nicht in der ersten Generation.
Bei Nuri kommt jedoch ein Problem hinzu. Nie taut eine Frau in seinem Leben auf. Mehrfach fragt Petr, wie es ihm denn mit den Frauen gehe, aber die Antworten bleiben vage. ‚Er müsse erst die Richtige kennenlernen‘, behauptet er, womit er vermutlich meint, dass die Richtige, die für die sechs Kinder ist. Das er es mit dieser Einstellung in Europa schwer haben wird, eine Partnerin zu finden, versucht Petr dem jungen Mann klar zu machen und außerdem mahnt er ihn, er sollte seine Jugend nicht verschwenden. Aber nichts geschieht. Kein Sex in Sicht.
Natürlich hat Nuri die europäischen Flirtregeln nicht lernen können. Es ist diese hochdiffizile Art der minimalen Annäherung, die kulturell tradiert ist: Das sich in Blickrichtung aufstellen. Der erste Augenkontakt. Das schnelle Wegschauen. Die sofortige Überprüfung der Reaktion durch einen zweiten hingeworfenen Blick. Blicke. Irgendwann ein kleines Lächeln. Das wiederholte Lächeln, um Klarheit zu schaffen. Das Warten auf die herbeigeführte Gelegenheit miteinander in Gespräch zu kommen. Das Plaudern. Die Komplimente. Die zufälligen Berührungen, die den Bruchteil einer Sekunde zu lang sind, um zufällig zu sein. Das vorsichtige Eindringen in den Distanzbereich als Indikator für Einverständnis. All das immer wieder unterbrochen von Zwischendistanzierungen und Rückschlägen, meist initiiert vom weiblichen Part, was ein Zeichen von Unsicherheit oder eine bewusste Aufreizung des Gegenübers sein kann. All dies muss man lesen können, um schließlich bei einem Blick, der zu lang ist, um nicht im ersten Kuss zu enden, die Antwort zu finden.
Das ist ein komplizierter, langwieriger Prozess, der gelernt werden will. Dafür hatte Nuri in Kabul keine Gelegenheit. Dort läuft das anders. Seit Jahrhunderten. Da verhandeln die Eltern über die Ehe. In Kabul wird eine andere Sprache gesprochen. Manche mögen einwenden, dass diese Sprache auch in Europa erst seit kurzer Zeit gesprochen wird, aber das ist ein Irrtum, denn das Ganze fand früher so oder so ähnlich in der Kirche statt. Bei Romeo und Julia kann man es nachlesen.
Nuri aber hat diese Techniken nicht lernen können und muss sich bei diesem Spiel vorkommen wie ein Wüstenbewohner auf Schlittschuhen. Diese Unfähigkeit wäre eine plausible Erklärung für seine Zurückhaltung, aber der Trieb ist stark. Der Trieb muss irgendwohin. Selten hält die Moral den Trieb dauerhaft in Schach.
Einmal – viel später – sagt Nuri lachend zum Thema: „Ich habe Angst“.
Wovor hat er Angst?
Und selbst wenn die Angst groß ist, Sex hat so viel Macht, dass sie fast alle Ängste überwindet.
Erst während des Gerichtsprozesses nimmt ein anderer Gedanke bei Peter immer größeren Raum ein. Ist es nicht erstaunlich, dass Nuri auffällig die Nähe zu ihm und seinem Partner sucht? Homosexualität ist in der islamischen Kultur verpönt. In einigen islamischen Ländern steht darauf die Todesstrafe, genau deshalb hatte Petr anfangs gezögert, Nuri zu erzählen, dass er mit einem Mann verheiratet ist. Er befürchtete, dass Nuri negativ reagiert. Aber Nuri nahm bei Besuchen Petr und seinen Partner völlig selbstverständlich wahr und nach einiger Zeit war klar, dass Nuri die Situation durchschaute, auch wenn es keiner thematisierte.
Konnte es sein, dass Nuri sich den Sex mit Männern ersehnte? Gerade die Ausrede von Nuri, dass er auf die „Richtige“ warten würde, erinnerte Peter an seine eigene Jugend, als er genau dieses Argument vorschob, um sich nicht seiner eigenen Sexualität stellen zu müssen.
Petr äußerte schließlich seinen Verdacht gegenüber der freundlichen Rechtsanwältin Nuris und die sagte spontan: „Ja, das könnte passen, so charmant, wie der ist, würde das einiges erklären“.
Natürlich war sich Petr unsicher, aber gerne wollte er versuchen dem jungen Mann über eine Klippe helfen, die ihm selber so sehr im Weg gestanden hatte. Also lud Petr Nuri zu einem Spaziergang durch den Park von Sanssoucis ein.
Dort gingen sie erst zum Grab von Friedrich dem Großen. Petr erzählte Nuri die Legende, warum noch heute Menschen Kartoffeln auf seinem Grab ablegen. Diese von Generation zu Generation weitergegebenen Legenden gehen ins kollektive Gedächtnis einer Kultur, eines Landes ein, wobei sie sich im Laufe der Jahrhunderte mit Stolz oder Scham oder einem anderen tiefen Gefühl aufladen und sich als Qen in der kulturellen Identität des Individuums verankern.
Nuri hat dieses Kartoffelgeschichten Qen nicht. Für ihn ist es eine Geschichte. Bei ihm schwingen die Jahrhunderte nicht mit. Nuri hat andere Qene.
Später nun, beim Gang durch die große Mittelallee begann Petr von sich zu erzählen und hoffte damit einen Weg zu öffnen, von dem er annahm, dass Nuri ihn nicht zu gehen wagt. Es war die Geschichte seines eigenen mühsamen und angstvollen Coming out. Nuri hörte zu. Aber Peters Erzählung blieb Monolog. Keine Frage unterbrach ihn. Kein „oh“ oder „ohje“ drückte Mitgefühl aus. Petr sprach in einen leeren Raum. Zurück blieb ein Rätsel, dass in den folgenden Monaten immer größer wurde.
„Weißt du“, sagt Nuri bei einer späteren Gelegenheit, „ich kenne nur solche Leute wie euch“, womit er schwule Männer meint und schiebt nach: „Das ist irgendwie komisch.“
Fortsetzung Nuris Wut (10)