Gestern war Herr K. zu einem Abendessen eingeladen. Mit am Tisch saß Deborah, eine amerikanische Freundin des Gastgebers und die erzählte eine Geschichte, die sich wie eine antike Tragödie mit Happy End anhört.
Deborah wuchs in einer typischen, amerikanischen Vorstadtfamilie in der Nähe von New York auf. Allerdings ganz so typisch war die Familie doch nicht, denn die Eltern hatten ihre drei Kinder, zwei Söhne und eben Deborah adoptiert.
Jason, der mittlere Sohn, war stets ein introvertiertes Kind gewesen, schweigsam, immer mit sich beschäftigt und schon früh an Musik und Poesie interessiert. Dieses Interesse wurde bei dem älter werdenden Jungen immer stärker. Mit 14 Jahren kreisten seine Gedanken ausschließlich um Musik und Poesie. Es war klar, Jason wollte Musiker werden.
Der Vater, ein anerkannter Arzt, war ein liebevoller und verantwortungsbewusster Vater und machte sich, wie alle Väter, Sorgen um die Zukunft seines Sohnes. Brotlose Musik war nicht, das was er sich für seinen Sohn erträumte und er versuchte Jason davon abzubringen und drängte ihn einen anderen Weg einzuschlagen. Jason wehrte sich gegen dieses Ansinnen, aber scheinbar um den Preis, dass er immer stärkere, psychische Probleme zeigte. Er litt unter schweren Depressionen, Selbstmordgedanken und unter schizophrenen Schüben.
Wie bei adoptierten Kinder üblich, kam auch bei Jason die Phase, als er mehr über seine leiblichen Eltern erfahren wollte, aber es gab keine Information, denn, soviel erfuhr er, man hatte ihn im Mai 1969 als Neugeborenen in einer Babyklappe eines Krankenhauses in New Jersey gefunden.
Jason wurde Musiker, aber er blieb eine fragile Persönlichkeit.
Viele Jahre später, Jason war bereits über vierzig, machten seine Adoptiveltern Ferien in Vermont und lasen in der New York Times den Leserbrief einer Frau, die zu einem Artikel über Babyklappen Stellung nahm. Die Autoren des Artikel hatten die These aufgestellt, dass Mütter, die Kinder an einer Babyklappe abgeben, großes emotionales Leid verspüren müssten. Diese Frau aber schrieb, dass sie, anders als behauptet, keine großes Leid gehabt habe, als sie ihren Sohn im Mai 1969 in einer Babyklappe eines Krankenhauses in New Jersey abgelegt habe. Im Gegenteil sie war froh über diese Möglichkeit, sie habe gute Gründe für diesen Schritt gehabt und sie glaube nach wie vor, dass es das Beste für das Kind gewesen sei.
Die Eltern von Jason waren elektrisiert, denn es war nahezu unmöglich, dass es keinen Zusammenhang zwischen Jason und dieser Leserbriefschreiberin gab. Die Eltern informierten Jason und es gelang Kontakt mit dieser Frau aufzunehmen, die sich tatsächlich als seine Mutter herausstellte. Natürlich wollte Jason seine Mutter kennenlernen, aber um den fragilen Jason nicht mit dieser schwierigen, hochemotionalen Situation alleine zu lassen, organisierten die Eltern ein Treffen mit ihnen selbst, der leiblichen Mutter und Jason.
Herr K. erfuhr nicht genau, wie dieses Treffen ablief, aber, so berichtete Deborah, als Jason leibliche Mutter erzählte, dass Jasons Erzeuger aus einer Musikerfamilie stammte, stammelte Jasons Vater entsetzt: „Und ich Idiot habe mein Leben lang versucht, Jason davon abzubringen, Musiker zu werden.“
Für Jason war das der Moment an dem nach langer Dunkelheit, endlich die Sonne durch die Wolken brach und ihm Licht und Wärme brachte.
Deborah berichtet, dass Jasons schizophrenen Schübe, Depressionen und Selbstmordgedanken von Stund an verschwunden waren.
Herrn K. kommentierte dies mit der Bemerkung: „Was einmal mehr zeigt: ‚Es gibt kein richtiges Leben im falschen‘.“[i]
[i] Theodor W. Adorno: Minima Moralia
2 Antworten auf „Herr K. und ein Wunder“
Lieber Peter, danke Dass Du die Geschichte geteilt hast. Ein schönes Bild dafür, dass im Leben manches gegeben oder vielleicht bestimmt ist, ohne dass wir es beeinflusst haben. Ein glückliches, gesundes Jahr 2022 wünsche ich Dir!
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