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Nuri liest (2)

Bisher erschien:
Nuri lächelt (1)

Wieder sitzen Lehrer und Schüler zusammen. Wie kann man Deutsch verstehen? Nein, grundsätzlicher: Wie kann man eine Sprache verstehen? Nuri lernt die Wörter, Nuri lernt die Grammatik, Nuri liest die Sätze. Was versteht er? Jeder Satz ist ein Eisberg. Nuri bewegt sich auf der glänzenden Oberfläche. Sie ist glatt und gewaltig. Nur mit Mühe kann er sich auf den Beinen halten. Überall lauern Spalten und Abgründe. Gefährliche Kanten. Schluchten. Beim Versuch, sie zu überwinden, stürzt er ab und er ahnt noch nicht, dass der größte Teil dieses Brockens unterhalb der Wasseroberfläche liegt. Jedes Wort hat tausende Nuancen.

Was heißt das? Die Worte allein sind es nicht. Nuri kennt Elefanten von Fotos oder aus dem Fernsehen. Vielleicht hat er sogar einmal eines auf einem Karussell in Kabul gesehen. Auch in Kabul gibt es Karussells. Aber weiß er, dass dieses Karussell in Paris steht? Im Jardin de Luxembourg? Seit mehr als 100 Jahren? In der Stadt des Lichts. Der Pracht. Des Bürgertums, das am Sonntag die Familie ausführt zum Sonntagsspaziergang. In Sonntagskleidung. Zum Sehen und Gesehen werden. Im Jardin du Luxembourg.

Weiß Nuri, dass das Lächeln „ein seliges, das blendet und verschwendet“ nicht das Seine ist? Selbst ‚dann und wann‘ war dieses Lächeln nie Seines.

Er brauchte sich auch nicht wie Herr Keuner umzusehen, um zu wissen, das die Gewalt hinter ihm stand. Sie stand nicht nur hinter ihm, sie stand auch vor ihm. Und neben ihm. Sie war sein Begleiter. Und er diente ihr wie Herr Egge. Nur länger. Nicht sieben auch nicht zwölf, sondern zwanzig Jahre diente er der Gewalt. In seinem Fall nutzte es nichts, das Lager zu waschen und die Wände zu tünchen, es war sinnlos, denn die Gewalt, anders als bei der Geschichte mit Herrn Egge, starb nicht.

Wie kann Nuri verstehen, was das „Nein“ des Herrn Egge bedeutet? Man kann es nur verstehen, wenn man Hoffnung hat. Hatte Nuri Hoffnung?

Nuri hat oft „Nein“ gesagt, aber nicht geschwiegen. Nuri hatte den Mut besessen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Ihm fiel das leichter als Anderen. Er war Außenseiter. Er gehörte zu einer Minderheit. Seine Familie, eine traditionelle und mächtige Familie, gehört zu den wichtigsten schiitischen Familien des sunnitischen Landes. Seit Jahrhunderten. Sein Großvater war ein bedeutender schiitischer Geistlicher in Afghanistan. Er verschwand, als die Russen ihn holten. Man hat nie wieder von ihm gehört. Die Familie flüchtete in den Iran. Dort ist Nuri geboren. Als die Russen Afghanistan verlassen hatten, kehrte die Familie nach Kabul zurück. Nuris Vater übernahm das Amt des Großvaters, die Leitung einer schiitischen Stiftung, einer Moschee, einer Koranschule. Nuri sollte sein Nachfolger werden.

Nuri zeigt dem Lehrer ein Foto aus Afghanistan. Einige Männer hocken, in traditioneller Kleidung auf dem Boden. Der Lehrer erkennt Nuri darauf nicht. Ein langer Bart entstellt sein Gesicht. Es ist ein ernstes Bild. Es ist nicht Nuri, den er, der Europäer, dort sieht. Es ist ein Fremder inmitten von Fremden. Der Betrachter kann die Zeichen, die Symbole dieses Bildes genauso wenig entschlüsseln, wie Nuri die Zeilen des Gedichtes. Das Bild macht ihm, dem Europäer, Angst.

Das ist Nuri? Er sieht aus wie ein islamischer Fanatiker!

Der Lehrer erkennt auf dem Foto etwas anderes: die Erstarrung dieser Kultur. Der verzweifelte, hoffnungslose Versuch alter Männern, eine Vergangenheit festzuhalten, die von Flugzeugen, Raketen, Autos, Fernsehern und Handys attackiert wird, diesen modernen Dingen, die in ihre Kultur eindringen und denen sie nichts entgegensetzen können, weshalb sie die Brandmauern des Glaubens und der Tradition immer höher ziehen.

Und dazwischen sitzt Nuri. Ein Zweifelnder?

Kann das sein? Kann man die Macht der Kultur, die Macht der Jahrhunderte, die Macht der Familie abgelegen, wie Nuri seinen Bart?

Erst wenn das gelingt, so denkt der Lehrer, würde Nuri die Bedeutung der Worte Rilkes oder Brechts verstehen können. Der Lehrer spürt, dass er an Grenzen stößt. Als Europäer hat er gelernt in Metaphern, Gleichnissen, Parabeln zu denken, so haben es die Bibel und Jesus von Nazareth seiner Kultur seit Jahrtausenden mit auf den Weg gegeben: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das Gleichnis des barmherzigen Samariters, das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Diese seit Jahrhunderten eingeübte Tradition hat sich in seinem Kopf festgesetzt. Er hat gelernt, in Bildern zu denken. Er hat gelernt, die Wahrheit hinter den Worten zu suchen. Erst hinter den Worten, so hat es ihm seine Kultur eingebläut, liegt die Wahrheit. Diese Wahrheit gilt es zu finden.

Nuri hat etwas anderes gelernt. Die Worte sind die Wahrheit. Sie kommen von Gott. Es gibt keine Interpretation. Es gibt keine Wahrheit hinter den Worten. Deswegen versteht er nicht, dass hinter Herrn Keuner plötzlich ‚die Gewalt‘ steht.

„Wie kann die Gewalt dort stehen?“, fragt er, wie ein fünfjähriges Kind.

Verständlich, dass Nuri sich zu einer anderen Sprache hingezogen fühlt. Es ist die Sprache der Mathematik. Diese Sprache versteht er. Da gibt es keine Wahrheit hinter den Zeichen. Diese Sprache ist logisch, klar, beweisbar.

Die Mathematik ist Wahrheit.

So wahr wie der Koran.

Fortsetzung: Nuri kämpft

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Herr K. und sein unsichtbarer Nachbar

Herr K. lebt in einem der typischen 20er Jahre Häuser Berlins. Es gibt eine nette Nachbarschaft. Man hilft sich mit Eiern oder Zucker, man plaudert im Treppenhaus und natürlich wird auch getratscht.

Gegenüber von Herrn K. wohnt ein Russe. Er ist Arzt. Er ist sympathisch. Er ist gutaussehend. Er lebt seit mehr als fünf Jahren im Haus, doch Herr K. hat ihn nur wenige Male gesehen. Meistens von hinten. Wenn er gerade das Haus verlässt. Nur kurze Augenblicke. Einmal haben sie ein paar Worte gewechselt. Allgemein, freundlich, nichtssagend.

‚Er ist schüchtern‘, dachte Herr K. und versuchte einmal vergeblich ihn zum Essen einzuladen.
‚Vielleicht mag er mich nicht‘, erklärte sich Herr K. sein Scheitern

Aber als bei einem der Treppenhausgespräche eine Nachbarin meint: „Er ist unsichtbar“, fällt es Herrn K. wie Schuppen von den Augen.
„Und er ist Russe“, sagt er.
Die Nachbarin schaut Herrn K. irritiert an und der, erregt von der plötzlichen Erkenntnis, erklärt:
„Russen mussten jahrzehntelang lernen nicht auf aufzufallen. Auffallen war lebensgefährlich. Das ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Unsichtbar hatten sie die größten Überlebenschancen.“**
„Aber, er lebt doch jetzt in Berlin“, entgegnete die Nachbarin, „da muss er doch keine Angst mehr haben.“

Herr K. schüttelte den Kopf: „Kultur ist ein Erbe, das man nicht so schnell ablegen kann.“

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** siehe: Der Grosse Terror – Stalins Säuberung der Gesellschaft (uzh.ch)

Passt dazu: Der Untergang Russlands als Self-fulfilling Prophecy – Peter K