Kategorien
...berichtet

Herr K. und das Reisen

Wer liebt es nicht zu Reisen? Wer möchte nicht einmal im Leben den Eifelturm besucht haben, wer geht nicht gern in den Louvre, um die Mona Lisa oder die Nike von Samothrake zu sehen? Wer bewundert nicht gerne die Grabbeigaben des Tutenchamun in Ägypten oder die beeindruckenden Ruinen von Pompeij? Wer möchte nicht gern im Kreuzgang des Mont Saint Michel sitzen und dem Kommen und Gehen des Meeres zusehen?

Nun, Menschen, die sich nicht für Kultur interessieren, brauchen nicht weiterlesen, denn ihnen bleibt vieles erspart. Die anderen kennen die Probleme.

Vor dem unvergesslichen Erlebnis stehen die Schlangen, die erste an der Kasse. Je nachdem kann das dauern, weshalb das praktische Zeitfensterticket erfunden wurde, mit dem Nachteil, dass der Museumsbesuch genau in die Zeit des Aufenthalts fällt, wo es gerade einmal nicht regnet oder man erschöpft von anderen Aktivitäten lieber ein kleines Schläfchen machen würde.

Hat man die Schlange am Ticketschalter überwunden, geht es zur Garderobe (Taschen größer als ein Nähkästchen sind nicht gestattet), schließlich steht man in die Schlange vor dem Eingang des Hochsicherheitsbereichs, wo man mehr oder weniger intensiv durchleuchtet wird, um sich schließlich durch heftiges Gedränge in den richtigen Gang zu schieben, bis man vor dem Allerheiligsten steht. Man versucht die Mona Lisa zu erfassen oder die Nike oder die Maske des Tutenchamun. Es gestaltet sich schwierig, weil irgendjemand immer im Weg steht oder ein anderer sein Handy über den Kopf hält, um das Foto zu machen, das Millionen andere auch schon gemacht haben.

Nun, und dann ist er da der magische Moment, man steht frei vor dem Heiligtum und kann endlich, endlich für ein paar Sekunden einen unverstellten Blick auf das Kunstwerk werfen, bevor einen unvermittelt eine chinesische Touristin von hinten an beiden Armen packt, beiseite schiebt, weil man ihr für das Selfie mit Mona Lisa im Weg steht.

Was würde der arme Walter Benjamin nur dazu sagen?

Genuss ist etwas anderes, aber immerhin kann man zu Hause erzählen: „Ich habe es gesehen“, so wie meine Großmutter tief bewegt nach Hause kam und uns berichtete, sie habe den Heiligen Rock in Trier gesehen.

Wahlweise kann die obige Erzählung abgewandelt werden. Versuchen sie mal im Hochsommer auf den Mont Saint Michel zu kommen. Zwanzigtausend andere versuchen es ebenso. Wenn sie es geschickt anstellen, brauchen sie nicht zu gehen, die Masse schiebt sie mit sich.

Was kann einem Besseres passieren?

Gut, es ist nicht Jedermanns Geschmack, kann ich verstehen. Meiner ist es auch nicht. Ruhe und Platz gehören zum Kulturgenuss. Aus diesem Grund haben wir einen anderen Weg gewählt: Wir reisen – nicht immer, aber immer öfter – antizyklisch. Das hat Nachteile, aber für uns überwiegen die Vorteile, denn wer sich darauf einlässt, kann außergewöhnliche Erfahrungen machen.

Waren sie schon einmal Anfang Dezember auf dem Mont Saint Michel?

Oder kurz vor Weihnachten in der Villa Ephrussi de Rothschild an der Cote d‘Azur?

Waren sie schon einmal in Ägypten und niemand, wirklich niemand stand vor der Totenmaske des Tutenchamun?

Waren sie schon einmal Ende Februar auf Capri oder in Neapel?

Wenn ich nun sage, dass das Momente meines Lebens gewesen sind, die mich zu Tränen gerührt haben, dann ist das nicht metaphorisch gemeint.

Wenn man Anfang Dezember, an einem kühlen, aber sonnigen Morgen den Mont Saint Michel betritt, den Weg hinauf zum Kloster einschlägt und seinen Obolus bezahlt hat, dann schreitet man allein, ganz allein durch die Kirche deren Bau, durch den hundertjährigen Krieg unterbrochen, spätromanische und hochgotische Teile miteinander verbindet und man geht von der Terrasse kommend, durch die schmale Tür erst ins Dunkle hin zum Licht des Chores und wenn man sich dann umwendet und das Glück hat, dass die Kirchentür offensteht, dann blickt man durch die leere Kirche hinaus in die Unendlichkeit des Meeres. Das ist ein magischer Augenblick. Der wird noch gesteigert, wenn man nur wenige Schritte weitergeht. Man kommt dann zum Kreuzgang und setzt sich, vielleicht 50 Meter über dem Watt, auf die steinerne Bank an der bodentiefe Öffnung des mit doppelten Säulenreihen geschmückten Ganges, um zu beobachten, wie das Meer sich langsam zurückzieht, bevor es, ein paar Stunden später zurückzukehren wird.

Wenn man das erlebt, dann sind die langsamen Schritte einzelner Besucher, die den Kreuzgang, beeindruckt von der kontemplativen Stimmung des Ortes entlangschreiten, so etwas wie das leise Rascheln von umgeschlagenen Buchseiten in einer Bibliothek.

Nicht viel anders ist es, wenn man an einem klaren Februartag auf Capri eine Wanderung macht. Ja, nur wenige Hotel haben bereits geöffnet, die Gucci-, Prada- und Luis Vuitton Läden sind geschlossen und kündigen den Frühling mit großen „Coming soon“ Plakaten in den Schaufenstern an, aber beim Spaziergang hinauf zu den Ruinen der Villa des Kaisers Tiberius, trifft man kaum einen Menschen und wenn man schließlich vor dem geschlossenen Eingangstor steht, muss man nur wenig suchen, dann geht gleich links ein kleiner Pfad um den Zaun herum und man kann das Gelände auch ohne Eintrittsgeld erkunden und sich an den spektakulären Ausblicken sattsehen.

Etwas mehr Mut bedarf es, wenn man das ägyptische Museum in Kairo mit nur wenigen Touristen teilen möchte. Uns gelang das in den 90ern. Damals gab es ein schweres Attentat in Ägypten, danach brachen dort die Touristenzahlen ein. Wir aber vertrauten auf eine Regel aus dem ersten Weltkrieg: Wenn man Schutz auf dem Schlachtfeld finden muss, dann werfe man sich in einen Granattrichter, selten, so die Erfahrung der Soldaten, wird eine Granate zweimal hintereinander am selben Ort einschlagen. Dasselbe vermuteten wir auch bei Attentaten in Ägypten. So kam es, dass wir im Schatzraum des Tutenchamun standen und sicher zwanzig Minuten die Schätze bewundern konnten, ohne dass uns jemand gestört hätte. Auch die Tempelanlagen von Karnak verbreiteten jene kontemplative Ruhe, die einem Tempel angemessen ist.

Gut, ich gebe zu, es ist nicht jedermanns Sache nach einem Attentat, ein Land zu bereisen, aber einen besseren Zeitpunkt, um die Kultur Ägyptens zu genießen, gab es nicht.

Aber auch wenn man nicht ganz so mutig ist, ist es nicht schwierig durch antizyklisches Reisen außerordentliche Besichtigungserlebnisse zu machen. Wissen sie, wann Anfang des 20. Jahrhunderts Saison an der Cote d’Azur war? Nein, nicht im Frühjahr und Sommer, wenn es unerträglich heiß wird, sondern im Herbst und Winter, wenn man den kälteren Regionen Europas entfliehen wollte und das milde Klima in Nizza und Umgebung genoss.

Wenn man also im Dezember zum Beispiel nach Nizza fährt, ist es wie eine Flucht vor den nasskalten, grauen Wintertagen in Berlin oder Frankfurt. Die Sonne lacht, die Temperaturen sind vorfrühlingshaft und ein gutes Mittagessen mit einem Glas Rosé auf dem Strand an der Promenade des Angelais beschert einen Glücksmoment des Lebens. Und wenn man dieses Glück noch ein wenig steigern will, dann nimmt man anschließend die Buslinie 15 und lässt sich vom Chauffeur bis zur Haltestelle Rothschild auf dem Cap Ferrat fahren, geht ein paar Meter bis zur Villa Ephrussie de Rothschild und besucht dieses Wunder der Gartenbaukunst. Nur wenige Besucher schlendern durch den Garten, der auf einem Bergrücken liegend auf beiden Seiten spektakuläre Küstenblicke freigibt und weil die Stimmung so intim ist, fällt es leicht, sich meditativ auf die choreografierten Wasserspiele der Brunnen einzulassen, wobei die tiefstehende Sonne den oberen Teil der Fontänen glitzern lässt. Mehr als drei Stunden verbringen wir in diesem Garten, den man selbst langsam gehend, bequem in 20 Minuten durchlaufen kann.

Den Möglichkeiten solche Erfahrungen zu machen, sind an der Cote d’Azur keine Grenzen gesetzt, aber in einem Punkt sind wir uns sicher: Im Frühjahr und Somme würden mehr Blumen blühen, es wäre 20 Grad wärmer, aber wir stünden schwitzend in langen Schlangen vor den Kassen und würden nach kurzer Zeit, genervt vom Trubel das nächste Highlight aufsuchen, immer in der Hoffnung, dort die Ruhe des Genusses zu finden.