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Der Einzige und sein Eigentum

Als ich hörte, dass im Deutschen Theater ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ als Theaterstück aufgeführt wird, musste ich unbedingt hin. Als junger Mann habe ich in einer Lesegruppe mehrere Jahre lang den Max Stirner Text Woche für Woche, Absatz für Absatz gelesen und vor allem diskutiert. Das Buch hat mein Denken geprägt, auch wenn ich mich heute nicht mehr als pazifistischen Anarchisten bezeichnen würde.

Um es mit einem Satz zusammenzufassen: Der Abend war beeindruckend und enttäuschend zugleich.

Beeindruckend das Bühnenbild, die Kostüme, die Choreografie, der Sprechgesang, also die Inszenierung, alles mit ungeheurem Aufwand in Szene gesetzt. Wirkliches Theater, mit allem Schnickschnack der heute en vogue ist. Die Drehbühne fast immer in Bewegung, ständig wechselnde Kostüme und der Sprechgesang, mit lauter Musik hinterlegt, mal im Chor, mal im Wechsel, mal als Soli. Dazu Videoprojektionen der SchauspielerInnen, wobei der an Breugel erinnernde, raumfüllende, spiralförmige Turm als Projektionsfläche diente, auf den später bedeutungsschwanger Bienenwaben projiziert wurden, die sich schließlich zu Hochhausgebilden transformierten. Der scheinbare Höhepunkt war es, als die Zuschauer sich eine 3D-Brille aufsetzen und in eine 3D-Welt eintauchen sollten. Leider war der visuelle Eindruck eher mittelmäßig und es wirkte gewollt.

„Überwältigungsästhetik“, kommentierte mein Begleiter die Inszenierung lakonisch, „ein Wagnersches Gesamtkunstwerk.“

Sehr enttäuschend war die inhaltliche Ebene. Die Texte, allesamt originale Stirnerzitate, wie die neben uns sitzende Souffleuse versicherte, waren kaum zu verstehen. Manche Phrasen waren, wohl wegen besserer Rhythmisierung, ins Englische übersetzt, einiges wurde permanent wiederholt. Insgesamt trat der Text vollständig in den Hintergrund und spielte – bis auf einen sehr spannenden Monolog über das Recht – keine Rolle.

„Man hätte auch die Bibel nehmen können“, meinte mein Begleiter trocken, was ich wiederum ausschloss, weil das nicht provozierend genug wäre, um sich heute den Mantel des künstlerischen umzuhängen.

Zurück bleibt ein ambivalenter Eindruck.

Schade.

https://www.deutschestheater.de/programm/a-z/der-einzige-und-sein-eigentum/

Weitere Theaterkritiken siehe auch:

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Die seltsamsten Menschen der Welt

Liebe Leserschaft,
normalerweise möchte ich natürlich, dass Ihr meinen Blog lest, aber dieses Mal möchte allen das Buch von Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt ans Herz legen. Es handelt sich um ein wissenschaftliches Buch über die kulturelle Evolution des Abendlandes.

Ich halte das Buch für eine der wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen die ich kenne und würde es, auch wenn es vielleicht etwas vermessen ist, in eine Reihe stellen mit Darwins: Entstehung der Arten oder Kopernikus: De revolutionibus orbium coelestium. Das Faszinierendste dieses Buches ist, dass Henrich eine unglaubliche Menge an Daten, Statistiken, Erkenntnissen und Experimenten aller Humanwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Volkswirtschaft, Anthropologie, sogar Medizin) zusammenträgt und in ein Gesamtkonzept zur Entwicklung von Gesellschaften überführt. Dabei geht er wissenschaftlich exakt vor und hat gleichzeitig einen lässigen und angenehmen Schreibstil (wie es nur die Amerikaner können).

Das Buch ist dick (mit 300 Seiten Apparat) und auch nicht ganz einfach. Allerdings kann man viele Stellen kursorisch lesen, weil diese in erster Linie dazu dienen, gegenüber der Wissenschaftgemeinde Methodik und Seriosität darzulegen.

Die Ideen sind ausgesprochen anregend, auch wenn ich vermute, dass Henrich an einigen Stellen über das Ziel hinausgeschossen ist, aber das betont er selber auch immer wieder.

Kleiner Tipp: Notiert Euch verwendete Abkürzungen oder Fachbegriffe, das hilft beim Lesen.

Wer es gelesen hat, mit dem würde ich sehr gerne in Austausch treten, entweder hier oder per Mail oder persönlich bei einem meiner Berliner Tafegespräche.