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Nuris Scham (8)

Nuri lächelt (1)

Nuri und der Rechtsstaat (6)

Nuris Verzweiflung (7)

Dank eines Zufalls hatte Nuri eine neue, sympathische und vor allem interessierte Anwältin gewinnen können. Sie führte viele Gespräche mit Nuri und stöhnte später, hinter vorgehaltener Hand: „Die vielen Stunden, die ich dem zugehört habe, bezahlt mir keiner.“

So ging es in die zweite Runde des Prozesses. Die Atmosphäre – zumindest für die Zuschauer – angenehm entspannt. Die Richterin freundlich und zugewandt. Die Aussichten trotzdem düster.

Nuri bestand darauf, alle Fragen auf Deutsch zu beantworten. Die Übersetzerin half nur wenige Male. „Ungewöhnlich“, sagt die Richterin in einer kleinen Verhandlungspause, „alle nutzen die Muttersprache.“

Und Nuri erzählt.

Er erzählt von seiner Familie. Wie er aufwuchs im Iran, bevor die Familie nach dem Einmarsch der Amerikaner wieder nach Kabul zurückkehrte. Er erzählte von seinem verschwundenen Großvater und dessen Rolle in Afghanistan. Er erzählt, wie sein Vater ihn verstoßen hat. Dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat, außer zu seiner Schwester. Dass er in Deutschland gearbeitet hat, bis er zufällig hörte, dass er hier das Abitur nachmachen kann. Dass er jetzt begonnen hat zu studieren.

Er erzählt, wie er seinem Vater, den Predigern und auch in den Seminaren der Kabuler Universität ständig widersprach. An der Rolle der Religion zweifelte. Er erzählt, dass manche Mitstudenten ihn Abends auf dem Nachhauseweg verprügelt haben. Er erzählt, dass ein General der Regierung seine schützende Hand über ihn gehalten habe, der aber später abgesetzt wurde und ihn nicht mehr schützen konnte.

Er erzählt von den Wachtürmen, die am Haus der Familie und der religiösen Stiftung seines Vater errichtet worden waren.

Er erzählt, wie ihm die Wachen mit ihren Kalaschnikows Angst machten.

Er erzählt, wie er verfolgt wurde von Männern., wenn er nach Hause ging.

Er erzählt, dass die Kabuler Straßen nach Einbruch der Dunkelheit leer sind.

Und er berichtet von seiner Entführung.

Wie auf dem Nachhauseweg ein japanisches Auto mit drei Männern neben ihm hielt, die Männer heraussprangen und ihn in das Auto warfen. Sie fuhren mit ihm durch die leeren Straßen, bedrohten ihn, verlangten sein Handy. Sie schlugen ihn. Sie traten ihn. Sie hielten ihm die Pistole an die Schläfe und dann warfen sie ihn an irgendeiner Straßenecke aus dem Fahrzeug.

An dieser Stelle griff die Anwältin ein: „Und während der Entführung wurde mein Mandant vergewaltigt.“

Stille legte sich über den Raum. Nuri. Zusammengesackt, schlägt die Augen nieder.

Die Richterin zu Nuri gewandt: „Stimmt das?“

Sein unmerkliches Nicken war mehr zu erahnen, als zu beobachten.

„Bestätigen sie das, was ihre Anwältin gerade gesagt hat?“, hakt die Richterin klar aber feinfühlig nach. „Sie müssen das sagen.“

Nuris Scham ist mit Händen zu greifen.

Er quält einen Laut über seine Lippen, den die Richterin wohlwollend als ein „Ja“ interpretiert.

Später erklärt die Anwältin, dass solche Vergewaltigungen keine Einzelfälle sind.

Nuri erhält kein Asyl, aber Nuri erhält ein Bleiberecht. Er wird nicht abgeschoben. Er kann hier bleiben, er bekommt Bafög. Er kann studieren.

Fortsetzung am 8.6.2024: Nuris offene Frage

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Nuris Verzweiflung (7)

Nuri lächelt (1)

Nuris Glaube (5)

Nuri und der Rechtsstaat (6)

„Nein“, schreit Nuri voller Verzweiflung. „nein, es soll aufhören. Was ist das? Was machen die hier?“ und es folgen Sätze auf Farsi.

Wie ein gehetztes Tier steht er in der Ecke eines Aufenthaltsraumes. Um ihn herum vier Personen, ein Justizbeamter, eine Sozialarbeiterin, eine Übersetzerin und Herr Petr. Herr Petr, der gerade erst dazugestoßen ist, geht langsam auf ihn zu und sagt: „Ruhig Nuri, ruhig, alles wird gut“, berührt ihn und als er merkt, dass Nuri ihn nicht abwehrt, nimmt der kräftige Herr Petr den schmalen, verletzlichen Nuri in seine Arme. Einen Moment spürt Herr Petr, wie sich Nuris Muskeln anspannen, so als wolle er den großen Mann wegstoßen, aber dann geben die Muskeln nach. Dann weint Nuri tränenlos.

„Gut Nuri, gut. Alles wird gut.“

Herr Petr versteht Nuris Verzweiflung. Es ist die Scham. Diese unerträgliche Scham für das, was in den letzten Stunden gesehen ist.

Sie sind im Gericht. Nuri ist aufgeregt. Er wartet auf den Beginn seiner Verhandlung.

Er hatte um Unterstützung gebeten für den Termin seines Asylverfahrens. Seine Betreuerin und Herr Petr sind bei ihm. Eine freundliche Übersetzerin stößt hinzu. Sie warten. Sie warten auf den Anwalt, den Nuri sich ausgesucht hatte.

Eine Woche vorher was Herr Petr mit Nuri zum Anwalt gegangen. Beim Betreten der schmuddeligen Kanzlei beschleicht Herrn Petr ein ungutes Gefühl. Ein unangenehmer Mann. Uninteressiert, distanziert. Er leiert ein paar Sachen herunter. Anwälte bekommen nicht viel Geld für so einen Fall.

Sein ungutes Gefühl beruhigt Herr Petr mit den Gedanken, dass es keinen Sinn habe eine Woche vor der Verhandlung den Anwalt zu wechseln. Außerdem kostet es Nuri noch einmal Geld, was er nicht hat.

Herr Petr liest Nuris Akte und erkennt, dass Nuri viele Fehler gemacht hat. Vieles, was er Herrn Petr erzählt hat, hat er verschwiegen. Nuri hat nicht gelernt, von sich zu sprechen. Er hat stattdessen von der politischen Situation und der Bedrohungssituation für Schiiten im Allgemeinen und seine Familie im Besonderen gesprochen, nicht ahnend, dass es nur ein individuelles Asylrecht gibt. Er muss persönlich bedroht und verfolgt sein. Das muss er nachweisen. Das hat Nuri nicht verstanden. Jetzt steht es anders im Protokoll und das ist die Grundlage für die gerichtliche Entscheidung.

Nuri spekuliert: „In Hamburg gibt es Leute aus Afghanistan, vom Geheimdienst, die haben falsche Informationen weitergegeben und dafür gesorgt, dass mein Antrag abgelehnt wird“, vermutet er.

Das ist die einzig natürliche Erklärung für ihn. So kennt er es aus Afghanistan

Ob der kopfschüttelnde Widerspruch von Herrn Petr Nuris Erklärungsmauer durchdringt, bleibt unklar. Herr Petr weiß, dass Überzeugungen stärkere Feinde der Wahrheit sind als Lügen.

Nun sitzen sie also auf dem Gerichtsflur und warten auf den Anwalt. Um neun Uhr ist Termin, aber der Anwalt ist nicht da. Genau in dem Moment als der Aufruf erfolgt, erscheint ein unbekannter, ungepflegter, hagerer Mann mit langen, grauen fettigen Haaren. „Ich bin ihr Anwalt“, ruft er. „Der Kollege kann heute nicht. Ich vertrete ihn. Machen sie sich keine Sorgen. Ich kenne ihren Fall. Wir werden heute gewinnen“ und dann beginnt das Drama. Eine spontane, abgrundtiefe Abneigung gegen diesen Mann erfasste Herrn Petr, aber da er in Gerichtssachen völlig unerfahren war, traute er sich nicht, Nuri dazu zu raten, den Anwalt von seinem Mandat zu entbinden.

Der Anwalt erweist sich als völlig hirnverbrannter Idiot. Dünkelhaft und mit der felsenfesten Überzeugung, dass das Gericht korrupt, menschenverachtend und nur daran interessiert ist, Nuri nach Afghanistan zurückzuschicken, spielt er sich auf. Dafür hat er ganz offensichtlich keine Ahnung von der Materie, noch von dem Fall. Er spielt mehr den Anwalt, als dass er einer ist. Gebrüll. Herumreiten auf angeblich versäumten Fristen des Gerichts. Vorwürfe. Angeblich fehlender Aktenzugang. Getue. Befangenheitsanträge. Das ganze Instrumentarium der Unfähigkeit. Nuri interessiert ihn nicht. Nuri ist stummer Beobachter und versteht nicht. Dieses Mal, weil auch nichts zu verstehen ist. Mehrmals gibt es Verhandlungspausen in denen der Anwalt wie vom Erdboden verschwunden ist. Ratlos stehen die beklommenen Unterstützer bei Nuri und versuchen ihn aufzumuntern.

Herr Petr fragt sich erneut, ob Nuri ohne Anwalt besser vertreten wäre. Aber ein Verfahren ganz ohne Anwalt? Mittags verkündet die Richterin eine Verhandlungspause. Herr Petr muss dringend einige Telefonate führen und geht für eine Viertelstunde vor die Tür. Als er zurückkommt, ist Nuri zusammengebrochen und schreit seine Verzweiflung heraus. Die Situation wirkt bedrohlich, deshalb wurde eine Justizbeamter hinzugerufen.

Aber Nuri hat Angst. Nuri versteht nicht nur nicht, was dort vor Gericht geschieht, er ist zutiefst beschämt. Er hat Angst, dass das alles zu seinen Ungunsten ausgelegt wird, wie es in Afghanistan tagtäglich geschieht. Aber schlimmer noch ist die Scham. Respekt vor den Autoritäten ist essentieller Bestandteil seines Seins. Die peinlichen Szenen des Anwalts haben sein kulturelles Innerstes getroffen.

Als die Verhandlung wieder aufgenommen wird, ist Nuri wie betäubt. Der Anwalt taucht, wie aus dem Nichts, wieder auf. Die freundliche Richterin schlägt eine Vertagung der Verhandlung wegen Verhandlungsunfähigkeit vor, was den aufgeregten Anwalt veranlasst einen weiteren Befangenheitsantrag gegen die Richterin zu fordern.

Da platzt Herrn Petr der Kragen. Er herrscht den Anwalt an:

„Was soll das? Sehen sie nicht, wie es ihrem Mandanten geht? Was sind sie für ein schrecklicher Mensch.“

Natürlich ist so ein Zwischenruf vor Gericht nicht erlaubt, aber alle Beteiligten, außer dem Schreckgespenst von Anwalt, waren froh. Die Sitzung wurde geschlossen und der Anwalt war in gleicher Sekunde verschwunden.

Noch am selben Tag wurde die Anwaltskanzlei von Nuris Vertretung entbunden und aus Herrn Petr wurde Petr.

Fortsetzung am 1.6.2024: Nuris Scham

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Herr K. und der Kellner

Herr K. machte zusammen mit einem Begleiter ein paar Tage Ferien in der brandenburgischen Provinz. Nach einer anstrengenden Wanderung suchten sie ein Restaurant, was sich schwieriger als erwartet gestaltete, denn es gab nur wenige davon in der kleinen Stadt. Schließlich fanden sie eines mit bürgerlicher Küche und angenehmen Ambiente. Es war voll und so gab es nur an der Theke zwei freie Plätze. Sie bestellten einen mittelmäßigen Rotwein, dazu ein Kotelett mit Pilzrahmsauce und begannen, wie es bei Herrn K. und seinem Begleiter üblich zu diskutieren. Sie sprachen über Fontane, über die Übertreibungen der Medien, über Relevanz und Irrelevanz von Kausalzusammenhängen und streiften sogar die Kant’schen Urteile a priori.

Ein junger Kellner hinter der Theke folgte offensichtlich neugierig ihrer Diskussion und versuchte etwas unbeholfen und ein bisschen aufdringlich, sich am Gespräch zu beteiligen.

Herr K. und sein Begleiter befürchteten, dass der junge Mann sie mit dummen Stammtischparolen zutexten wolle und wichen den Anknüpfungsversuchen so gut es ging aus.

Als Herr K. und sein Begleiter schließlich bei dem jungen Kellner zahlten, brach es ungeduldig aus ihm heraus: „Bevor sie gehen, muss ich ihnen noch eine Frage stellen. Glauben Sie, dass es in diesem Land Meinungsfreiheit gibt?“

Jetzt sah sich Herr K. zu einer Stellungnahme gezwungen und antwortete: „Ja, natürlich gibt es Meinungsfreiheit in diesem Land, niemand wird wegen einer Meinung von Staats wegen verfolgt oder kommt dafür ins Gefängnis. Allerdings“, so fügte er hinzu, „gibt es den Druck der öffentlichen Meinung und dem kann man sich nicht entziehen. Dieser Druck ist manchmal schwer auszuhalten.“

Als Herr K. seine Rede beendet hatte, leuchteten die Augen des Kellners und er konnte seine Begeisterung kaum unterdrücken.

„Wissen Sie“, sprudelte es aus ihm heraus, „wie sie diskutieren, ist außergewöhnlich, vor allem im Gegensatz zu dem, was ich sonst hier zu hören bekomme. Sie sind wirklich Premium Gäste.“

Verblüfft über das unerwartete Kompliment antwortete Herr K. nun seinerseits unbeholfen: „Und sie sind ein Premium Kellner!“

Beschämt verließen Herr K. und sein Begleiter das Lokal.

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