Nuri lächelt (1)
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Nuri und der Rechtsstaat (6)
Dank eines Zufalls hatte Nuri eine neue, sympathische und vor allem interessierte Anwältin gewinnen können. Sie führte viele Gespräche mit Nuri und stöhnte später, hinter vorgehaltener Hand: „Die vielen Stunden, die ich dem zugehört habe, bezahlt mir keiner.“
So ging es in die zweite Runde des Prozesses. Die Atmosphäre – zumindest für die Zuschauer – angenehm entspannt. Die Richterin freundlich und zugewandt. Die Aussichten trotzdem düster.
Nuri bestand darauf, alle Fragen auf Deutsch zu beantworten. Die Übersetzerin half nur wenige Male. „Ungewöhnlich“, sagt die Richterin in einer kleinen Verhandlungspause, „alle nutzen die Muttersprache.“
Und Nuri erzählt.
Er erzählt von seiner Familie. Wie er aufwuchs im Iran, bevor die Familie nach dem Einmarsch der Amerikaner wieder nach Kabul zurückkehrte. Er erzählte von seinem verschwundenen Großvater und dessen Rolle in Afghanistan. Er erzählt, wie sein Vater ihn verstoßen hat. Dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat, außer zu seiner Schwester. Dass er in Deutschland gearbeitet hat, bis er zufällig hörte, dass er hier das Abitur nachmachen kann. Dass er jetzt begonnen hat zu studieren.
Er erzählt, wie er seinem Vater, den Predigern und auch in den Seminaren der Kabuler Universität ständig widersprach. An der Rolle der Religion zweifelte. Er erzählt, dass manche Mitstudenten ihn Abends auf dem Nachhauseweg verprügelt haben. Er erzählt, dass ein General der Regierung seine schützende Hand über ihn gehalten habe, der aber später abgesetzt wurde und ihn nicht mehr schützen konnte.
Er erzählt von den Wachtürmen, die am Haus der Familie und der religiösen Stiftung seines Vater errichtet worden waren.
Er erzählt, wie ihm die Wachen mit ihren Kalaschnikows Angst machten.
Er erzählt, wie er verfolgt wurde von Männern., wenn er nach Hause ging.
Er erzählt, dass die Kabuler Straßen nach Einbruch der Dunkelheit leer sind.
Und er berichtet von seiner Entführung.
Wie auf dem Nachhauseweg ein japanisches Auto mit drei Männern neben ihm hielt, die Männer heraussprangen und ihn in das Auto warfen. Sie fuhren mit ihm durch die leeren Straßen, bedrohten ihn, verlangten sein Handy. Sie schlugen ihn. Sie traten ihn. Sie hielten ihm die Pistole an die Schläfe und dann warfen sie ihn an irgendeiner Straßenecke aus dem Fahrzeug.
An dieser Stelle griff die Anwältin ein: „Und während der Entführung wurde mein Mandant vergewaltigt.“
Stille legte sich über den Raum. Nuri. Zusammengesackt, schlägt die Augen nieder.
Die Richterin zu Nuri gewandt: „Stimmt das?“
Sein unmerkliches Nicken war mehr zu erahnen, als zu beobachten.
„Bestätigen sie das, was ihre Anwältin gerade gesagt hat?“, hakt die Richterin klar aber feinfühlig nach. „Sie müssen das sagen.“
Nuris Scham ist mit Händen zu greifen.
Er quält einen Laut über seine Lippen, den die Richterin wohlwollend als ein „Ja“ interpretiert.
Später erklärt die Anwältin, dass solche Vergewaltigungen keine Einzelfälle sind.
Nuri erhält kein Asyl, aber Nuri erhält ein Bleiberecht. Er wird nicht abgeschoben. Er kann hier bleiben, er bekommt Bafög. Er kann studieren.
Fortsetzung am 8.6.2024: Nuris offene Frage