Kategorien
...erzählt

Nuri und der Rechtsstaat (6)

Bisher erschienen:
Nuri lächelt (1)

Nuris Wohnung (4)
Nuris Glaube (5)

Nuri klagt gegen die Bundesrepublik Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Juristisch nachvollziehbar.

Nuri ist, nachdem er bereits länger in Deutschland gelebt hatte, noch einmal auf inständiges Bitten seines Vaters nach Kabul zurückgekehrt. Das war, bevor die Taliban wieder die Macht an sich rissen. Der schwer kranke Vater hoffte darauf, dass sein Sohn die Nachfolge der Stiftung übernimmt. Familie wiegt schwer in diesem Kulturkreis, aber bei Nuris Rückkehr war die Situation in Kabul beängstigend geworden. Soldaten mit Maschinengewehren bewachten die Stiftung. Nuri solle, so der Vater und ein befreundeter General, lernen mit den Waffen umzugehen, um das Zentrum im Falle eines Angriffs zu schützen.

„Ich konnte das nicht. Ich kann nicht mit Waffen auf Menschen schießen. Ich wollte das nicht lernen. Es hat mir Angst gemacht.“

Wenige Wochen später floh er erneut zurück nach Deutschland. Dass das Bundesamt den Asylantrag anschließend ablehnte, ist Recht, wenn auch keine Gerechtigkeit. In Europa kann man sich nicht vorstellen, dass jemand freiwillig in ein Land zurückkehrt, wo das eigene Leben in Gefahr ist: Wer zurückkehrt, kann nicht verfolgt sein! Mit diesem Maßstab ist Nuris Zerrissenheit zwischen Treue und Angst, ein eindeutiger Beweis dafür, dass ihm keine Gefahr droht. Die europäische Vorstellung ist. dass das eigene Leben wichtiger ist als die Pflicht gegenüber der Familie. Eigennutz geht vor Fremdnutz.

Das der Druck des Vaters, der Familie, der Tradition, der Kultur so stark sein kann, dass jemand Dinge tut, die er nicht will, ist in Europa ins Unbewusste verdrängt worden. Europäer glauben sich frei von diesen Urgewalten. Das haben ihnen ihnen die Theologen und Philosophen und Literaten immer und immer wieder erzählt. Sie glauben sich frei und doch ist dieser Glaube nur eine Illusion. Auch Europäer sitzen auf einem Eisberg.

Nun, Nuri klagt. Er hat sich einen Anwalt gesucht. Irgendjemand von den Flüchtlingen hat den empfohlen, unwissend, dass einen Anwalt zu haben nicht heißt, dass der auch Nuris Interessen vertritt.

Nuri erzählt Herrn Petr vom bevorstehenden Prozess und der spürt ganz im Hintergrund den unausgesprochenen Wunsch, er möge Einfluss nehmen.

Herr Petr scheint Einfluss zu haben, auch scheint er reich zu sein, denn er hat eine große Wohnung und tausende von Büchern. Ein paar Male hat er Nuri auch in gute Restaurants eingeladen. Muss Herr Petr nicht ein mächtiger Mann sein? Herr Petr hat Beziehungen. Nuri hat erlebt, wie Herr Petr ihm innerhalb kürzester Zeit eine Wohnung besorgt hat. Das war ihm in vier Jahren nicht gelungen. Herr Petr kann Strippen ziehen. Kann er vielleicht vor Gericht etwas erreichen?

Herr Petr nimmt diese Erwartungen unterschwellig wahr und ohne genau zu wissen warum, erklärt er Nuri das Prinzip des Rechtstaats.

Was bedeutet ‚Rechtsstaat‘? Was darf ein Richter? Was bedeutet es, dass Richter keine Vorgesetzten haben? Was bedeutet es, dass Richter unabhängig sind? Was kann man gegen ein falsches Urteil tun?

Das ist anders in Afghanistan. Dort wird ein Richter so entscheiden, wie ihm ein Minister oder ein Warlord oder andere wichtige Menschen einflüstern und ihm dabei ein Bakschisch in die Hand drücken.

Das Weisungen übergeordneter Stellen oder Bestechungsversuche bei Gericht hierzulande gefährlich und Richter nur dem Gesetz verpflichtet sind, diese Bedeutung des Rechtsstaates hat Herr Petr auch erst mit Älterwerden begriffen. Diese Prinzipien zu verstehen braucht Zeit. Noch dazu braucht es Jahrhunderte, damit sie sich entwickeln können und langsam aber stetig in die Köpfe der Kultur zu sickern, bis sie als etwas Selbstverständliches wahrgenommen werden. Es ist fast eine Naturgesetz, dass man Richter nicht besticht und selbst gute und mächtige Freunde nutzen nichts, denn ‚Vor Gericht und auf hoher See, ist man allein in Gottes Hand‘.

Vor Gericht gilt das Gesetz, selbst dann, wenn es dem Richter ungerecht erscheint und selbst wenn ein einfacher Mann gegen den Herrscher klagt. Exemplarisch dafür steht der Prozess des Potsdamer Müllers gegen Friedrich den Großen, den König, der gegen den Müller verlor. Eine Anekdote, gewiss, ein Mythos, aber sie dokumentiert ein Ideal und ein tiefverwurzelte Haltung, die Nuri nur intellektuell verstehen kann. Dass ausschließlich das Gesetz gilt, dass Richter unabhängig sind, dass lernt Nuri wie binomische Formeln und begreift doch nur die Eleganz und Schönheit des sichtbaren Teils des Eisbergs.

Fortsetzung: Nuris Verzweiflung (7)