Herr K. traf eine Freundin, die einen bedrückten Eindruck machte. Auf die Frage, was los sei, erzählte sie, dass die Arbeit in der Klinik sie sehr belastet. Es gäbe nicht genügend Personal, daher müsse sie mehr als 60 Stunden die Woche arbeiten. Dazu kämen Rufbereitschaften als leitende Oberärztin, die dazu führten, dass sie sich am Wochenende nicht erholen könne. Das Privatleben würde unter dieser Situation zunehmend leiden. Manchmal sei sie verzweifelt.
Auf die Frage von Herrn K. warum sie sich nicht eine andere Arbeit suche, meinte sie: „Davor habe ich Angst.“
Herr K. schwieg eine Weile nachdenklich und entgegnete dann: „Wo die Angst ist, ist die Tür.“
Sie hat einen Mann aus Albanien geheiratet. War das eine Aufregung! Schockierte Eltern. Albaner? Verbrecher! Heute ist das anders. Es ist der liebste Schwiegersohn. Sie hat albanisch gelernt. Bei den Schwiegereltern. Auf dem Dorf. In Albanien. Bitterste Armut. Der Sohn und seine Frau haben ein schönes Haus. In Deutschland.
Die Schwiegereltern kommen zu Besuch. Während des Frühstücks, nimmt der Schwiegervater Kaffeetasse und Stuhl und setzt sich vor die Haustür. Sie wundert sich. Sie fragt: „Vater, was machst Du da?“ Er: „Ich warte auf die Müllabfuhr.“ Sie, verwirrt: „Warum wartest Du auf die Müllabfuhr?“ Er: „Du hast gesagt, dass um 10 Uhr die Müllabfuhr kommt, und ich will wissen, ob das wahr ist.“
Gestern waren wir eingeladen
Auf einem privaten Empfang.
Allerbeste Lage.
Ein riesiges Wohnzimmer,
feinste Designermöbel.
Am Fenster ein Steinway,
ein Kandinsky an der Wand.
Grüppchen verteilen sich im Raum
man unterhält sich gepflegt.
Alles feine Leute.
Gebildet.
Klug.
Freundlich.
Eine angenehme Gesellschaft.
Auf silbernen Tabletts
werden Häppchen gereicht.
Delikat.
Man lobt den Champagner.
Diese Frische!
Dieses Bouquet!
Vor dem Fenster inszeniert die Sonne ihren Untergang.
Ein anderes, heiteres Gedicht: Der Zweifelteufel
Neulich war ich auf einer Party.
Der 50. Geburtstag eines Freundes.
Ein netter Mann,
ein schöner Platz.
Blick über Rhein, Dom und Hohenzollernbrücke.
Geschlossene Gesellschaft.
Kultivierter Jazz, köstliches Essen und guter Wein.
Nette Gespräche, neue Eindrücke und alte Bekannte.
Vor der Fensterfront des Raumes liegen,
zwei Glaszentimeter entfernt,
zwei Stadtstreicher.
Trinken schlechten Schnaps im Schlafsack.
Dann schlafen sie ruhig.
Bewacht von der zwei Zentimeter entfernten,
geschlossenen Gesellschaft.
Nuri erzählt seine Geschichte. Es sind Fragmente, die wie einzelne Teile eines explodierenden Gartenschuppens aus seinem Mund schießen. Es ist eine unfertige Erzählung, denn seine Scham verwischt die Details, seine Angst bedrängt die Worte, sein Schmerz macht Sprünge.
Er lächelt. Die ganze Zeit lächelt er. Die Worte müssen heraus, trotz der Angst, trotz der Scham, trotz des Schmerzes.
Lächelnd.
Der Zeuge dieser Erinnerungsexplosion lauscht betroffen und die Erinnerungsfetzen treffen ihn wie Schrapnelle, die er zusammensetzen muss. Aus den Trümmerstücken der Explosion, aus den Fragmenten muss er den Gartenschuppen zusammensetzen, der dem Ursprünglichen ähnelt.
“Ich habe kaum jemanden davon erzählt, niemand weiß das alles“, sagt Nuri zum Schluss, als er lächelnd ein wenig von seiner Last auf seinem Gegenüber abgeladen hat. Der Zuhörer nimmt die Last an, trägt sie mit sich, wissend, dass seine Erleichterung nur vorübergehend sein wird. Es ist bloß der Sisyphosmoment, der Augenblick, in dem sich der Stein löst und wieder nach unten rollt. „Ich bin so dankbar, hier in Deutschland zu sein, hier sind so viele gute Menschen. Dieses Land ist ein großartiges Land.“ Er ist 25 Jahre alt. Er ist vor drei Jahren nach Deutschland gekommen. Aus Afghanistan. Aus Kabul. Dort hat er studiert. Dann ist er geflüchtet. Nach Deutschland. Mit dem Flugzeug. Sein Deutsch ist fließend, aber den Sätzen fehlt die Geschmeidigkeit, es fehlen die Feinheiten einer Muttersprache. So klingt seine Erzählung härter, brutaler als er vielleicht beabsichtigt. Sein Land hat er verlassen, seine Mutter, seinen Vater. Er hat den Boden unter den Füßen verloren, der Vater will ihn nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen. Die Mutter ebenso. Nur zur Schwester hat er noch Kontakt. Der Zeuge, wohlwissend, dass Familie, der Vater, die Mutter dort so viel wichtiger sind als hier, fragt nach dem Warum.
„Ich habe Arabisch gelernt. Ich wollte den Koran lesen und es stimmt nicht, was sie sagen, sie lügen. Es steht nicht im Koran, da steht etwas anderes. Mein Vater ist strenggläubig.“
Der Zuhörer weiß, im Islam gilt der Koran als Gottes Wort und da Gott Mohammed die Worte auf Arabisch gesagt hat, darf der Koran nur auf Arabisch gelesen werden. Viele, die meisten gläubigen Moslems anderer Zunge beten ein unverständliches Mantra. Sie sprechen die Worte, ohne zu verstehen und glauben den erklärenden Worten der Prediger. Der junge Mann aber, der da lächelnd vor ihm sitzt, hat sich nicht damit abgefunden, das zu glauben was Vater und Prediger sagen, sondern hat sich aufgemacht zu prüfen und kommt zu anderen Ergebnissen. „Sie lügen“, wiederholt er auf einmal ernst.
Ob er an Gott glaube, will der Gegenübersitzende wissen. „Ja, ich glaube an Gott, aber Gott ist mehr, als im Koran steht. Auf WhatsApp“, so setzt er fort „hat mich mein Vater gesperrt und meine Mutter…..“, er schweigt kurz „… denkt, sie ist nichts ohne ihn. Meine Schwester, mit ihr habe ich Kontakt. Sie ist klug, geht zur Schule, macht bald Abitur.“
Plötzlich ist Kabul für den Zuhörer ganz nah, nicht mehr 7000 Kilometer entfernt. Da ist ein Mädchen, klug, vielleicht ebenso gut aussehend wie Nuri, sie hört von seinem Wunderland, während sie in ihrer Burka durch die staubigen Straßen Kabuls zur Schule geht.
Nuri geht auch zur Schule. Er will das deutsche Abitur machen. Auf dem zweiten Bildungsweg. „In Kabul habe ich studiert und an der Universität gearbeitet. Auch in Deutschland habe ich schon gearbeitet und erst dort durch Zufall gehört, dass ich das deutsche Abitur nachmachen kann.“
So haben sie sich kennengelernt. Der Zuhörer und sein Nachhilfeschüler. Sie lernen Deutsch zusammen. Es ist Nuris größtes Problem auf dem Weg zum Abitur: Texte verstehen, kleine und große Geschichten. Es fehlen nicht nur die Wörter oder die Grammatik, es fehlt der ganze kulturelle Hintergrund, das Wissen um Begebenheiten, um Geschichte und Geschichten, es fehlt ihm das kollektive Gedächtnis über Ereignisse, die durch Eltern und Großeltern, durch Bücher, Radio und Fernsehen in unsere Seele eingesickert sind und sich aufgeladen haben mit Emotionen. Nichts davon ist ihm vertraut.
Wenn wir vom Holocaust reden, dann reden wir über ein Trauma, ein Entsetzen, einen jahrzehntelangen Prozess der Aufklärung und der Wiedergutmachung. Wir denken an den Kniefall von Willy Brandt in Warschau, wir denken an Auschwitz und Treblinka und Dachau und Buchenwald. Wir sehen Bilder vor uns, können erzählen und berichten. Wir kennen Geschichten von Niedertracht und Größe.
Und Nuri? Er lernt die Zahlen und Daten und Fakten und erschrickt vielleicht über das, was in diesem großartigen Land einmal möglich war, aber es ist eine abstrakte Welt. Es sind keine Emotionen, seine Emotionen sind in der Heimat. In Afghanistan.
„Dreimal bin ich davongekommen“, sagt er. „Einmal war ich nicht in der Universität, als die Taliban mit Raketen angriffen. Viele Tote. Das andere Mal haben sie die Universität überfallen und dabei viele Geiseln umgebracht. Ich war nicht da, zufällig.“
Er lächelt.
„Das dritte Mal war anders. Ich habe gearbeitet, ich habe viel Geld verdient. Man muss es immer bei sich führen. Es gibt keinen sicheren Platz. Dann, es war kriminell. Ich bin zur Polizei gegangen. Die ist korrupt. Sie haben mich gefunden und zusammengeschlagen, sie dachten, ich wäre tot.“
Er lächelt.
Der Zuhörende versteht nicht, wagt nicht nachzufragen. Zu fragil die Situation. Der junge Mann hat die Tür einen Spalt breit geöffnet, lächelnd, traurig, zerbrechlich.
„Vor ein paar Wochen habe ich ein Portemonnaie gefunden. Ich habe es zurückgegeben. Der Eigentümer wollte mir Geld geben. Ich habe es nicht gewollt. Und zwei Tage später, wirklich zwei Tage später habe ich dann noch ein IPhone gefunden, sie rief an, ich habe es ihr gebracht, auch ihr Geld habe ich nicht genommen.“
Der Zuhörer versucht Nuri zu erklären, dass er den beiden keinen Gefallen getan hat, als er ihr Geld zurückwies, aber er spürt den Stolz des jungen Mannes.
„Wissen sie“, sagt Nuri „in Kabul, wenn mich einer gefragt hätte, ob ich einen guten Menschen kennen würde, dann wäre mir nur einer eingefallen. Das wäre ich gewesen“, wieder lächelt er und dem Betrachter wird plötzlich klar, dass dies nicht das strahlende Lächeln der Jugend, sondern das verzweifelte Lächeln eines alten Mannes ist.
Als sie das Café verlassen, drückt der Lehrer dem Schüler 50€ in die Hand. Nuri wehrt sich. Irgendwann nimmt er es an.
Er lächelt nicht mehr und verschwindet im U-Bahneingang.
Zurück bleibt der Betroffene mit der Frage: „Stimmt das alles, oder ist es eine verdammt gut erzählte Geschichte?“
Der Zuhörer möchte, dass die Geschichte stimmt, aber wissen tut er es nicht.