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Rom oder ‚Die Kunst des Reisens‘

Sandro Botticelli: Giuliano de' Medici

Reisen ist eine Kunst, die kaum noch beherrscht wird. Reisen bedeutete einmal mit anderen Menschen, mit anderen Kulturen, mit anderen Verhaltensweisen in Kontakt kommen, andere Eindrücke sammeln, um die Vielfalt und die Schönheit der Welt zu erleben.

Diese Form ging verloren, indem das Reisen durchorgansiert wurde. Kontakte kommen maximal mit dem Kellner im Restaurant oder der einheimischen Reiseführerin zustande und das wird als pars pro toto angesehen. Fremde Verhaltensweisen werden mehr kopfschüttelnd als neugierig zur Kenntnis genommen. Selbst der sogenannte Individualreisende, der gerne auf die Pauschalreisenden herabschaut, kann diesem Dilemma nicht entkommen.

Umso wichtiger erscheinen mir deshalb die kleinen Beobachtungen, irritierende Momente, die Überraschungen der Straße. Bei unserem Besuch in Rom zum Beispiel wurde mir sehr klar welche Bedeutung die Religion, der Katholizismus für viele Menschen hat. Im atheistischen Berlin spielt Religion eine untergeordnete Rolle und ist praktisch nicht sichtbar, die Kirchen sind leer. In Rom ist das anders. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Priester gesehen. In fast jedem Restaurant saß eine Gruppe von ihnen.

Pilger aus ganz Europa, Äthiopien, Peru oder Nigeria zogen in großen Gruppen durch die Stadt. Im Petersdom knieten Dutzende vor dem Grab von Papst Johannes II und beteten. Zweimal gerieten wir in eine Heilige Messe, wo es keinen freien Platz mehr gab und in einer dieser Kathedralen machte ich eine flüchtige, zutiefst beeindruckende Beobachtung.

Ein Zufall, ein Augenblick. In der Basilika Santa Maria Maggiore. Am Sonntagmorgen.

Die riesige Kathedrale ist überfüllt. Alle Sitzplätze sind von Gläubigen besetzt und in den Seitenschiffen drängen sich die Touristen, während vorne eine Zahl prächtig gewandeter, katholischer Zeremonienmeister ihre Rituale absolvieren. Einer stellt ein Gefäß von rechts nach links, spricht einen Zauberspruch darüber, um das Gefäß dann wieder von links nach rechts zu stellen. Diese Rituale, vor zweitausend Jahren entstanden, von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergegeben und kaum verändert, haben sich tief eingebrannt in Körper und Geist der Gläubigen und dienen, wie alle Rituale, der Selbstvergewisserung.

Auch mich, obwohl Agnostiker und in der Regel kopfschüttelnd-spottend über diesen Irrationalismus, erfasst ein Schauer, wenn die Gemeinde betet, alle sich gleichzeitig erheben oder zusammen singen. Es ist das Gemeinschaftserlebnis, wie im Fußballstadion, wie bei einer Technoparty oder in den besten Momenten im Theater. Alle atmen im gleichen Rhythmus und bewegen sich im gleichen Takt, das Individuum verliert seine Individualität und wird zur Masse und die Masse wird zum Subjekt, im schlimmsten Fall zur Meute.

Inmitten dieser Masse stehe ich staunend im rechten Seitenschiff als ich im Augenwinkel mitbekomme, wie sich der Vorhang eines Beichtstuhls öffnet. Heraus tritt ein junger Mann, kein Kind mehr, aber noch nicht Mann. Vielleicht fünfzehn Jahre alt. Eine auffallende Schönheit, ein klares Gesicht, sehr schlank und hochgewachsen, mittelblonde, leicht gelockte Haare, die bis zur Schulter herunterfallen. Er trägt einen maßgeschneiderten, beigen Anzug, ein weißes Hemd, alles perfekt gebügelt, dazu eine dunkelblaue, formvollendet gebundene Krawatte und sündhaft teure Lederschuhe. Ein paar Schritte bewegt er sich durch das Gedränge, bis er vor einem der Nebenaltäre auf die Knie sinkt und ein Gebet spricht, bevor er sich wieder erhebt und dem Ausgang entgegenstrebt.

Das wars.

So unbedeutend die Szene war, erschien sie mir wie aus einer verlorenen Zeit. Marcel Proust oder Boccaccio hätten die richtigen Worte dafür gefunden, für Thomas Mann wäre der Junge ein Vorbild für den Tadzjo gewesen und ein auferstandener Visconti würde den ‚Tod in Venedig‘ heute mit ihm drehen wollen.

Nein, es war nicht die Schönheit dieses Jungen, die mich faszinierte, sondern der Ernst und die Selbstsicherheit, der Stolz und die Gewissheit einer Gesellschaftsklasse, die dieser Junge in jeder Faser seines Leibes mit sich trug. Diese Klasse ist sich sicher, dass sie auch noch in Generationen Einfluss auf die Geschicke Roms nehmen wird.

Vor Jahrhunderten hat Botticelli solche Personen gemalt.

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Vaterliebe

Gestern war Herr K. bei französischen Freunden zum Abendessen eingeladen. Ein nachdenklicher Abend. Man sprach über das Sterben. Herr K. fragte den Gastgeber, ob seine Eltern noch leben würden und der erzählte, dass sein Vater schon lange tot sei und dass er und sein Vater aber eine Nicht Beziehung gehabt hätten. Nie habe er so etwas wie ein Vater-Sohn Gespräch erlebt. Es sei einfach nichts gewesen. Kein Vertrauen, keine Nähe. Nichts.

„Aber mein Vater hat Deutschland geliebt, als ich Kind war, sind wir jedes Jahr nach Bayern gefahren.“

„Sprach Dein Vater Deutsch?“, fragte Herr K.

„Er sprach Bayrisch.“

Wie es denn dazu gekommen sei, wollte Herr K. überrascht wissen.

Und der Freund erzählte: „Mein Vater war während des Krieges in deutscher Kriegsgefangenschaft. Erst in einem Stalag und später wurde er zur Zwangsarbeit auf einem Bauernhof am Chiemsee geschickt. Die Bauersleut haben ihn gut behandelt. Sie hatten selber einen Sohn. Der war im Krieg. In Russland. In Stalingrad ist er gefallen.“

Nach einer kurzen Pause setzte er stockend fort:

„Daraufhin haben die Bauersleut meinen Vater zu ihrem Sohn gemacht.“

Mit den letzten Worten brach der Erzähler in Tränen aus.

„Ich wünschte“, flüsterte der Freund, „ich hätte so viel Liebe von ihm erfahren.“

‚Was für eine traurig-schöne Geschichte‘, dachte Herr K. ‚welche Menschlichkeit in Zeiten des Krieges und wie entsetzlich traurig, dass der Vater dem Sohn die empfangene Liebe nicht weitgeben konnte.‘

Auch lesenswert Herr K. , der ewige Optimist – von Peter K.

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Nuris Wut (10)

Nuri lächelt (1)

Nuris Scham (8)

Nuris offene Frage (9)

„Wir müssen uns treffen. Wann kannst Du?“, fragt Nuri in einer WhatsApp an Petr.

Sie verabreden sich am nächsten Tag in einem Kaffee am Markt. Petr ist als Erster da. Nuri lächelt nicht, als er kommt. Nach einer dieser merkwürdig distanzierten Umarmungen plaudern sie ein wenig, aber Petr spürt, dass etwas los ist.

Er fragt.

Und dann fliegen ihm die Splitter einer emotionalen Explosion um die Ohren.

Petr versteht nichts, außer der Wut. Nuris Wut. Nuri ist plötzlich ein Fremder. Nicht mehr der freundliche Junge von nebenan. Da brodelt ein Vulkan aus Gewalt und Zorn und Verzweiflung. Ein ähnlicher Zustand wie Petr ihn bei den jungen afghanischen Männer vermutet, die mit Messern durch die Straßen laufen, um auf jemanden einzustechen.

Wie kann das sein? Was ist mit Nuri passiert?

Es sind nur wenige Fragmente, die Petr versteht. Der Vater. Die Taliban. Sie stellen den Vater vor Gericht und wollen ihm sein Vermögen stehlen. Sie verfolgen ihn. Sie quälen den schwer kranken Mann. Nuri will eine Waffe und nach Afghanistan fahren und sie umbringen. Töten. Er will den von ihm selbst zutiefst verachteten Vater rächen.

Das ist es, was Petr aus den spärlichen Puzzleteilen zusammensetzen kann. Es ist ein Bild, von dem er nicht sicher ist, ob dieses Bild überhaupt etwas mit der Realität zu tun hat.

Aber der Zorn ist da. Klar und eindeutig. und Herr Petr fragt sich, ob dahinter nicht eine viel größere Wut steckt.

Nuri sagt immer: „Deutschland ist ein großartiges Land“. Er lebt in diesem Paradies. Seine Mutter, seine Schwester, sein Bruder, sein Vater aber leben in der Hölle.

Macht ihn das so verzweifelt?

Hat er Schuldgefühle? Schuldgefühle wie die Holocaustüberlebenden, die darunter leiden, dass sie leben, während die anderen sterben mussten?

Oder ist es ein tiefsitzendes Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn Qen? Eine Mentalität, die tief verankert ist in seiner Religion, eine Religion, die die Brutalität des Lebens in der Wüste in sich aufnahm. Aufnehmen musste.

Oder sind es diese unsichtbaren Bande der Familie, die alles umschlingen und erdrücken und die selbst tausende Kilometer entfernt noch wirken, wie die Fäden der Marionette an denen er baumelt?

Oder ist es der Zorn darüber, dass es nicht möglich ist, aus Afghanistan ein ebensolches Paradies zu schaffen wie hier. Und warum ausgerechnet geht das in Deutschland, obwohl hier die Ungläubigen leben?

Oder ist es die Vorstellung, dass nur der Westen für das Unglück armer Länder verantwortlich ist? Vielleicht alles zusammen.

Petr ist entsetzt, denn auf ihn wirkt Nuri nun wie einer der jungen, afghanischen Messerstecher. Nuri macht ihm Angst.

Erst versucht Petr Nuri zu beruhigen. Aber Nuri ist in einem Tunnel. „Ich mache das und dann komme ich zurück.“

Petr erklärt Nuri, dass er dummes Zeug redet, dass er in Deutschland auch für Taten im Ausland bestraft werden kann, dass er seine Zukunft zerstöre. Er redet auf ihn ein. Immer und immer wieder.

Alles vergebens.

Irgendwann platzt Petr der Kragen, er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und sagt: „Nuri, ich erkenne dich nicht wieder. Wenn Du nicht aufhörst, gehe ich, dann können wir nicht befreundet sein. Das geht nicht. Du bis in einem Wahn. Komm zurück in die Realität“.

Erst da beruhigt sich Nuri.

Was passiert ist, beschäftigt Petr lange. Bei allen folgenden Treffen ist Nuri wieder der Alte. Charmant, neugierig, freundlich, lächelnd, zuvorkommend. Die andere Seite taucht nicht auf. Eines ist Petr klar: Auch in Nuri schlummert etwas Unsteuerbares.

Wie bei jedem von uns.

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Nuris offene Frage (9)

Nuri lächelt (1)

Nuris Verzweiflung (7)

Nuris Scham (8)

Nuri will eine Familie. Er will fünf Kinder, ein Haus, ein schönes Auto, einen angesehenen Beruf und er will reisen. Das ist sein Traum, der Traum vom Leben eines Bürgers. Ein nachvollziehbarer Traum, ein Traum wie ihn viele Flüchtlinge haben und die meisten wohl nicht erreichen werden, jedenfalls nicht in der ersten Generation.

Bei Nuri kommt jedoch ein Problem hinzu. Nie taut eine Frau in seinem Leben auf. Mehrfach fragt Petr, wie es ihm denn mit den Frauen gehe, aber die Antworten bleiben vage. ‚Er müsse erst die Richtige kennenlernen‘, behauptet er, womit er vermutlich meint, dass die Richtige, die für die sechs Kinder ist. Das er es mit dieser Einstellung in Europa schwer haben wird, eine Partnerin zu finden, versucht Petr dem jungen Mann klar zu machen und außerdem mahnt er ihn, er sollte seine Jugend nicht verschwenden. Aber nichts geschieht. Kein Sex in Sicht.

Natürlich hat Nuri die europäischen Flirtregeln nicht lernen können. Es ist diese hochdiffizile Art der minimalen Annäherung, die kulturell tradiert ist: Das sich in Blickrichtung aufstellen. Der erste Augenkontakt. Das schnelle Wegschauen. Die sofortige Überprüfung der Reaktion durch einen zweiten hingeworfenen Blick. Blicke. Irgendwann ein kleines Lächeln. Das wiederholte Lächeln, um Klarheit zu schaffen. Das Warten auf die herbeigeführte Gelegenheit miteinander in Gespräch zu kommen. Das Plaudern. Die Komplimente. Die zufälligen Berührungen, die den Bruchteil einer Sekunde zu lang sind, um zufällig zu sein. Das vorsichtige Eindringen in den Distanzbereich als Indikator für Einverständnis. All das immer wieder unterbrochen von Zwischendistanzierungen und Rückschlägen, meist initiiert vom weiblichen Part, was ein Zeichen von Unsicherheit oder eine bewusste Aufreizung des Gegenübers sein kann. All dies muss man lesen können, um schließlich bei einem Blick, der zu lang ist, um nicht im ersten Kuss zu enden, die Antwort zu finden.

Das ist ein komplizierter, langwieriger Prozess, der gelernt werden will. Dafür hatte Nuri in Kabul keine Gelegenheit. Dort läuft das anders. Seit Jahrhunderten. Da verhandeln die Eltern über die Ehe. In Kabul wird eine andere Sprache gesprochen. Manche mögen einwenden, dass diese Sprache auch in Europa erst seit kurzer Zeit gesprochen wird, aber das ist ein Irrtum, denn das Ganze fand früher so oder so ähnlich in der Kirche statt. Bei Romeo und Julia kann man es nachlesen.

Nuri aber hat diese Techniken nicht lernen können und muss sich bei diesem Spiel vorkommen wie ein Wüstenbewohner auf Schlittschuhen. Diese Unfähigkeit wäre eine plausible Erklärung für seine Zurückhaltung, aber der Trieb ist stark. Der Trieb muss irgendwohin. Selten hält die Moral den Trieb dauerhaft in Schach.

Einmal – viel später – sagt Nuri lachend zum Thema: „Ich habe Angst“.

Wovor hat er Angst?

Und selbst wenn die Angst groß ist, Sex hat so viel Macht, dass sie fast alle Ängste überwindet.

Erst während des Gerichtsprozesses nimmt ein anderer Gedanke bei Peter immer größeren Raum ein. Ist es nicht erstaunlich, dass Nuri auffällig die Nähe zu ihm und seinem Partner sucht? Homosexualität ist in der islamischen Kultur verpönt. In einigen islamischen Ländern steht darauf die Todesstrafe, genau deshalb hatte Petr anfangs gezögert, Nuri zu erzählen, dass er mit einem Mann verheiratet ist. Er befürchtete, dass Nuri negativ reagiert. Aber Nuri nahm bei Besuchen Petr und seinen Partner völlig selbstverständlich wahr und nach einiger Zeit war klar, dass Nuri die Situation durchschaute, auch wenn es keiner thematisierte.

Konnte es sein, dass Nuri sich den Sex mit Männern ersehnte? Gerade die Ausrede von Nuri, dass er auf die „Richtige“ warten würde, erinnerte Peter an seine eigene Jugend, als er genau dieses Argument vorschob, um sich nicht seiner eigenen Sexualität stellen zu müssen.

Petr äußerte schließlich seinen Verdacht gegenüber der freundlichen Rechtsanwältin Nuris und die sagte spontan: „Ja, das könnte passen, so charmant, wie der ist, würde das einiges erklären“.

Natürlich war sich Petr unsicher, aber gerne wollte er versuchen dem jungen Mann über eine Klippe helfen, die ihm selber so sehr im Weg gestanden hatte. Also lud Petr Nuri zu einem Spaziergang durch den Park von Sanssoucis ein.

Dort gingen sie erst zum Grab von Friedrich dem Großen. Petr erzählte Nuri die Legende, warum noch heute Menschen Kartoffeln auf seinem Grab ablegen. Diese von Generation zu Generation weitergegebenen Legenden gehen ins kollektive Gedächtnis einer Kultur, eines Landes ein, wobei sie sich im Laufe der Jahrhunderte mit Stolz oder Scham oder einem anderen tiefen Gefühl aufladen und sich als Qen in der kulturellen Identität des Individuums verankern.

Nuri hat dieses Kartoffelgeschichten Qen nicht. Für ihn ist es eine Geschichte. Bei ihm schwingen die Jahrhunderte nicht mit. Nuri hat andere Qene.

Später nun, beim Gang durch die große Mittelallee begann Petr von sich zu erzählen und hoffte damit einen Weg zu öffnen, von dem er annahm, dass Nuri ihn nicht zu gehen wagt. Es war die Geschichte seines eigenen mühsamen und angstvollen Coming out. Nuri hörte zu. Aber Peters Erzählung blieb Monolog. Keine Frage unterbrach ihn. Kein „oh“ oder „ohje“ drückte Mitgefühl aus. Petr sprach in einen leeren Raum. Zurück blieb ein Rätsel, dass in den folgenden Monaten immer größer wurde.

„Weißt du“, sagt Nuri bei einer späteren Gelegenheit, „ich kenne nur solche Leute wie euch“, womit er schwule Männer meint und schiebt nach: „Das ist irgendwie komisch.“

Fortsetzung Nuris Wut (10)

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Nuris Scham (8)

Nuri lächelt (1)

Nuri und der Rechtsstaat (6)

Nuris Verzweiflung (7)

Dank eines Zufalls hatte Nuri eine neue, sympathische und vor allem interessierte Anwältin gewinnen können. Sie führte viele Gespräche mit Nuri und stöhnte später, hinter vorgehaltener Hand: „Die vielen Stunden, die ich dem zugehört habe, bezahlt mir keiner.“

So ging es in die zweite Runde des Prozesses. Die Atmosphäre – zumindest für die Zuschauer – angenehm entspannt. Die Richterin freundlich und zugewandt. Die Aussichten trotzdem düster.

Nuri bestand darauf, alle Fragen auf Deutsch zu beantworten. Die Übersetzerin half nur wenige Male. „Ungewöhnlich“, sagt die Richterin in einer kleinen Verhandlungspause, „alle nutzen die Muttersprache.“

Und Nuri erzählt.

Er erzählt von seiner Familie. Wie er aufwuchs im Iran, bevor die Familie nach dem Einmarsch der Amerikaner wieder nach Kabul zurückkehrte. Er erzählte von seinem verschwundenen Großvater und dessen Rolle in Afghanistan. Er erzählt, wie sein Vater ihn verstoßen hat. Dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat, außer zu seiner Schwester. Dass er in Deutschland gearbeitet hat, bis er zufällig hörte, dass er hier das Abitur nachmachen kann. Dass er jetzt begonnen hat zu studieren.

Er erzählt, wie er seinem Vater, den Predigern und auch in den Seminaren der Kabuler Universität ständig widersprach. An der Rolle der Religion zweifelte. Er erzählt, dass manche Mitstudenten ihn Abends auf dem Nachhauseweg verprügelt haben. Er erzählt, dass ein General der Regierung seine schützende Hand über ihn gehalten habe, der aber später abgesetzt wurde und ihn nicht mehr schützen konnte.

Er erzählt von den Wachtürmen, die am Haus der Familie und der religiösen Stiftung seines Vater errichtet worden waren.

Er erzählt, wie ihm die Wachen mit ihren Kalaschnikows Angst machten.

Er erzählt, wie er verfolgt wurde von Männern., wenn er nach Hause ging.

Er erzählt, dass die Kabuler Straßen nach Einbruch der Dunkelheit leer sind.

Und er berichtet von seiner Entführung.

Wie auf dem Nachhauseweg ein japanisches Auto mit drei Männern neben ihm hielt, die Männer heraussprangen und ihn in das Auto warfen. Sie fuhren mit ihm durch die leeren Straßen, bedrohten ihn, verlangten sein Handy. Sie schlugen ihn. Sie traten ihn. Sie hielten ihm die Pistole an die Schläfe und dann warfen sie ihn an irgendeiner Straßenecke aus dem Fahrzeug.

An dieser Stelle griff die Anwältin ein: „Und während der Entführung wurde mein Mandant vergewaltigt.“

Stille legte sich über den Raum. Nuri. Zusammengesackt, schlägt die Augen nieder.

Die Richterin zu Nuri gewandt: „Stimmt das?“

Sein unmerkliches Nicken war mehr zu erahnen, als zu beobachten.

„Bestätigen sie das, was ihre Anwältin gerade gesagt hat?“, hakt die Richterin klar aber feinfühlig nach. „Sie müssen das sagen.“

Nuris Scham ist mit Händen zu greifen.

Er quält einen Laut über seine Lippen, den die Richterin wohlwollend als ein „Ja“ interpretiert.

Später erklärt die Anwältin, dass solche Vergewaltigungen keine Einzelfälle sind.

Nuri erhält kein Asyl, aber Nuri erhält ein Bleiberecht. Er wird nicht abgeschoben. Er kann hier bleiben, er bekommt Bafög. Er kann studieren.

Fortsetzung am 8.6.2024: Nuris offene Frage

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Nuris Verzweiflung (7)

Nuri lächelt (1)

Nuris Glaube (5)

Nuri und der Rechtsstaat (6)

„Nein“, schreit Nuri voller Verzweiflung. „nein, es soll aufhören. Was ist das? Was machen die hier?“ und es folgen Sätze auf Farsi.

Wie ein gehetztes Tier steht er in der Ecke eines Aufenthaltsraumes. Um ihn herum vier Personen, ein Justizbeamter, eine Sozialarbeiterin, eine Übersetzerin und Herr Petr. Herr Petr, der gerade erst dazugestoßen ist, geht langsam auf ihn zu und sagt: „Ruhig Nuri, ruhig, alles wird gut“, berührt ihn und als er merkt, dass Nuri ihn nicht abwehrt, nimmt der kräftige Herr Petr den schmalen, verletzlichen Nuri in seine Arme. Einen Moment spürt Herr Petr, wie sich Nuris Muskeln anspannen, so als wolle er den großen Mann wegstoßen, aber dann geben die Muskeln nach. Dann weint Nuri tränenlos.

„Gut Nuri, gut. Alles wird gut.“

Herr Petr versteht Nuris Verzweiflung. Es ist die Scham. Diese unerträgliche Scham für das, was in den letzten Stunden gesehen ist.

Sie sind im Gericht. Nuri ist aufgeregt. Er wartet auf den Beginn seiner Verhandlung.

Er hatte um Unterstützung gebeten für den Termin seines Asylverfahrens. Seine Betreuerin und Herr Petr sind bei ihm. Eine freundliche Übersetzerin stößt hinzu. Sie warten. Sie warten auf den Anwalt, den Nuri sich ausgesucht hatte.

Eine Woche vorher was Herr Petr mit Nuri zum Anwalt gegangen. Beim Betreten der schmuddeligen Kanzlei beschleicht Herrn Petr ein ungutes Gefühl. Ein unangenehmer Mann. Uninteressiert, distanziert. Er leiert ein paar Sachen herunter. Anwälte bekommen nicht viel Geld für so einen Fall.

Sein ungutes Gefühl beruhigt Herr Petr mit den Gedanken, dass es keinen Sinn habe eine Woche vor der Verhandlung den Anwalt zu wechseln. Außerdem kostet es Nuri noch einmal Geld, was er nicht hat.

Herr Petr liest Nuris Akte und erkennt, dass Nuri viele Fehler gemacht hat. Vieles, was er Herrn Petr erzählt hat, hat er verschwiegen. Nuri hat nicht gelernt, von sich zu sprechen. Er hat stattdessen von der politischen Situation und der Bedrohungssituation für Schiiten im Allgemeinen und seine Familie im Besonderen gesprochen, nicht ahnend, dass es nur ein individuelles Asylrecht gibt. Er muss persönlich bedroht und verfolgt sein. Das muss er nachweisen. Das hat Nuri nicht verstanden. Jetzt steht es anders im Protokoll und das ist die Grundlage für die gerichtliche Entscheidung.

Nuri spekuliert: „In Hamburg gibt es Leute aus Afghanistan, vom Geheimdienst, die haben falsche Informationen weitergegeben und dafür gesorgt, dass mein Antrag abgelehnt wird“, vermutet er.

Das ist die einzig natürliche Erklärung für ihn. So kennt er es aus Afghanistan

Ob der kopfschüttelnde Widerspruch von Herrn Petr Nuris Erklärungsmauer durchdringt, bleibt unklar. Herr Petr weiß, dass Überzeugungen stärkere Feinde der Wahrheit sind als Lügen.

Nun sitzen sie also auf dem Gerichtsflur und warten auf den Anwalt. Um neun Uhr ist Termin, aber der Anwalt ist nicht da. Genau in dem Moment als der Aufruf erfolgt, erscheint ein unbekannter, ungepflegter, hagerer Mann mit langen, grauen fettigen Haaren. „Ich bin ihr Anwalt“, ruft er. „Der Kollege kann heute nicht. Ich vertrete ihn. Machen sie sich keine Sorgen. Ich kenne ihren Fall. Wir werden heute gewinnen“ und dann beginnt das Drama. Eine spontane, abgrundtiefe Abneigung gegen diesen Mann erfasste Herrn Petr, aber da er in Gerichtssachen völlig unerfahren war, traute er sich nicht, Nuri dazu zu raten, den Anwalt von seinem Mandat zu entbinden.

Der Anwalt erweist sich als völlig hirnverbrannter Idiot. Dünkelhaft und mit der felsenfesten Überzeugung, dass das Gericht korrupt, menschenverachtend und nur daran interessiert ist, Nuri nach Afghanistan zurückzuschicken, spielt er sich auf. Dafür hat er ganz offensichtlich keine Ahnung von der Materie, noch von dem Fall. Er spielt mehr den Anwalt, als dass er einer ist. Gebrüll. Herumreiten auf angeblich versäumten Fristen des Gerichts. Vorwürfe. Angeblich fehlender Aktenzugang. Getue. Befangenheitsanträge. Das ganze Instrumentarium der Unfähigkeit. Nuri interessiert ihn nicht. Nuri ist stummer Beobachter und versteht nicht. Dieses Mal, weil auch nichts zu verstehen ist. Mehrmals gibt es Verhandlungspausen in denen der Anwalt wie vom Erdboden verschwunden ist. Ratlos stehen die beklommenen Unterstützer bei Nuri und versuchen ihn aufzumuntern.

Herr Petr fragt sich erneut, ob Nuri ohne Anwalt besser vertreten wäre. Aber ein Verfahren ganz ohne Anwalt? Mittags verkündet die Richterin eine Verhandlungspause. Herr Petr muss dringend einige Telefonate führen und geht für eine Viertelstunde vor die Tür. Als er zurückkommt, ist Nuri zusammengebrochen und schreit seine Verzweiflung heraus. Die Situation wirkt bedrohlich, deshalb wurde eine Justizbeamter hinzugerufen.

Aber Nuri hat Angst. Nuri versteht nicht nur nicht, was dort vor Gericht geschieht, er ist zutiefst beschämt. Er hat Angst, dass das alles zu seinen Ungunsten ausgelegt wird, wie es in Afghanistan tagtäglich geschieht. Aber schlimmer noch ist die Scham. Respekt vor den Autoritäten ist essentieller Bestandteil seines Seins. Die peinlichen Szenen des Anwalts haben sein kulturelles Innerstes getroffen.

Als die Verhandlung wieder aufgenommen wird, ist Nuri wie betäubt. Der Anwalt taucht, wie aus dem Nichts, wieder auf. Die freundliche Richterin schlägt eine Vertagung der Verhandlung wegen Verhandlungsunfähigkeit vor, was den aufgeregten Anwalt veranlasst einen weiteren Befangenheitsantrag gegen die Richterin zu fordern.

Da platzt Herrn Petr der Kragen. Er herrscht den Anwalt an:

„Was soll das? Sehen sie nicht, wie es ihrem Mandanten geht? Was sind sie für ein schrecklicher Mensch.“

Natürlich ist so ein Zwischenruf vor Gericht nicht erlaubt, aber alle Beteiligten, außer dem Schreckgespenst von Anwalt, waren froh. Die Sitzung wurde geschlossen und der Anwalt war in gleicher Sekunde verschwunden.

Noch am selben Tag wurde die Anwaltskanzlei von Nuris Vertretung entbunden und aus Herrn Petr wurde Petr.

Fortsetzung am 1.6.2024: Nuris Scham

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Nuri und der Rechtsstaat (6)

Bisher erschienen:
Nuri lächelt (1)

Nuris Wohnung (4)
Nuris Glaube (5)

Nuri klagt gegen die Bundesrepublik Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Juristisch nachvollziehbar.

Nuri ist, nachdem er bereits länger in Deutschland gelebt hatte, noch einmal auf inständiges Bitten seines Vaters nach Kabul zurückgekehrt. Das war, bevor die Taliban wieder die Macht an sich rissen. Der schwer kranke Vater hoffte darauf, dass sein Sohn die Nachfolge der Stiftung übernimmt. Familie wiegt schwer in diesem Kulturkreis, aber bei Nuris Rückkehr war die Situation in Kabul beängstigend geworden. Soldaten mit Maschinengewehren bewachten die Stiftung. Nuri solle, so der Vater und ein befreundeter General, lernen mit den Waffen umzugehen, um das Zentrum im Falle eines Angriffs zu schützen.

„Ich konnte das nicht. Ich kann nicht mit Waffen auf Menschen schießen. Ich wollte das nicht lernen. Es hat mir Angst gemacht.“

Wenige Wochen später floh er erneut zurück nach Deutschland. Dass das Bundesamt den Asylantrag anschließend ablehnte, ist Recht, wenn auch keine Gerechtigkeit. In Europa kann man sich nicht vorstellen, dass jemand freiwillig in ein Land zurückkehrt, wo das eigene Leben in Gefahr ist: Wer zurückkehrt, kann nicht verfolgt sein! Mit diesem Maßstab ist Nuris Zerrissenheit zwischen Treue und Angst, ein eindeutiger Beweis dafür, dass ihm keine Gefahr droht. Die europäische Vorstellung ist. dass das eigene Leben wichtiger ist als die Pflicht gegenüber der Familie. Eigennutz geht vor Fremdnutz.

Das der Druck des Vaters, der Familie, der Tradition, der Kultur so stark sein kann, dass jemand Dinge tut, die er nicht will, ist in Europa ins Unbewusste verdrängt worden. Europäer glauben sich frei von diesen Urgewalten. Das haben ihnen ihnen die Theologen und Philosophen und Literaten immer und immer wieder erzählt. Sie glauben sich frei und doch ist dieser Glaube nur eine Illusion. Auch Europäer sitzen auf einem Eisberg.

Nun, Nuri klagt. Er hat sich einen Anwalt gesucht. Irgendjemand von den Flüchtlingen hat den empfohlen, unwissend, dass einen Anwalt zu haben nicht heißt, dass der auch Nuris Interessen vertritt.

Nuri erzählt Herrn Petr vom bevorstehenden Prozess und der spürt ganz im Hintergrund den unausgesprochenen Wunsch, er möge Einfluss nehmen.

Herr Petr scheint Einfluss zu haben, auch scheint er reich zu sein, denn er hat eine große Wohnung und tausende von Büchern. Ein paar Male hat er Nuri auch in gute Restaurants eingeladen. Muss Herr Petr nicht ein mächtiger Mann sein? Herr Petr hat Beziehungen. Nuri hat erlebt, wie Herr Petr ihm innerhalb kürzester Zeit eine Wohnung besorgt hat. Das war ihm in vier Jahren nicht gelungen. Herr Petr kann Strippen ziehen. Kann er vielleicht vor Gericht etwas erreichen?

Herr Petr nimmt diese Erwartungen unterschwellig wahr und ohne genau zu wissen warum, erklärt er Nuri das Prinzip des Rechtstaats.

Was bedeutet ‚Rechtsstaat‘? Was darf ein Richter? Was bedeutet es, dass Richter keine Vorgesetzten haben? Was bedeutet es, dass Richter unabhängig sind? Was kann man gegen ein falsches Urteil tun?

Das ist anders in Afghanistan. Dort wird ein Richter so entscheiden, wie ihm ein Minister oder ein Warlord oder andere wichtige Menschen einflüstern und ihm dabei ein Bakschisch in die Hand drücken.

Das Weisungen übergeordneter Stellen oder Bestechungsversuche bei Gericht hierzulande gefährlich und Richter nur dem Gesetz verpflichtet sind, diese Bedeutung des Rechtsstaates hat Herr Petr auch erst mit Älterwerden begriffen. Diese Prinzipien zu verstehen braucht Zeit. Noch dazu braucht es Jahrhunderte, damit sie sich entwickeln können und langsam aber stetig in die Köpfe der Kultur zu sickern, bis sie als etwas Selbstverständliches wahrgenommen werden. Es ist fast eine Naturgesetz, dass man Richter nicht besticht und selbst gute und mächtige Freunde nutzen nichts, denn ‚Vor Gericht und auf hoher See, ist man allein in Gottes Hand‘.

Vor Gericht gilt das Gesetz, selbst dann, wenn es dem Richter ungerecht erscheint und selbst wenn ein einfacher Mann gegen den Herrscher klagt. Exemplarisch dafür steht der Prozess des Potsdamer Müllers gegen Friedrich den Großen, den König, der gegen den Müller verlor. Eine Anekdote, gewiss, ein Mythos, aber sie dokumentiert ein Ideal und ein tiefverwurzelte Haltung, die Nuri nur intellektuell verstehen kann. Dass ausschließlich das Gesetz gilt, dass Richter unabhängig sind, dass lernt Nuri wie binomische Formeln und begreift doch nur die Eleganz und Schönheit des sichtbaren Teils des Eisbergs.

Fortsetzung: Nuris Verzweiflung (7)

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Nuris Glaube (5)

Bisher erschien:
Nuri lächelt (1)
Nuri liest (2)
Nuri kämpft (3)
Nuris Wohnung (4)

Der Versuch von Herrn Petr sich dem Glauben von Nuri zu nähern, gleicht einer Seefahrt ohne Navigationsgeräte.

„Es stimmt nicht, was ihr sagt. Das steht nicht im Koran“, hat er wohl mutig seinem Vater und den Imamen um die Ohren gehauen, womit er sich kaum beliebt gemacht haben dürfte. „Der Koran rechtfertigt keine Regierung von Mullahs. Religion und Regierung sollten getrennt sein.“

Und immer wieder der Satz: „Sie lügen“, und er meint damit die Prediger.

Nuri geht hier nicht in eine Moschee. Er sucht den Kontakt mit Herrn Petr, dem atheistischen, schwulen Skeptiker.

„Ich habe Arabisch gelernt. Ich habe den Koran gelesen. Ich habe auch die Bibel gelesen und es gibt einen Gott, ja, aber nicht so, wie sie sagen.“

„Was macht dieser Gott?,“ fragt der Skeptiker.

„Er hat die Welt erschaffen. Er hat der Welt Gesetze gegeben. Die sollen wir befolgen.“

„Und wie sind diese Gesetze zu den Menschen gekommen?“

„Gott hat sie dem Propheten gesagt.“

„Aber du weißt Nuri, dass der Koran erst fünfzig oder achtzig Jahre nach dem Tod von Mohammed aufgeschrieben wurde. Hat da keiner in der Zwischenzeit etwas hinzugefügt oder weggelassen?“

„Nein, nein, das konnte nicht passieren, weil es Zeugen gibt. Es ist genau festgehalten, wer die Sätze des Propheten bezeugen kann und an wen die Sätze weitergegeben wurden. Das gilt für jede Sure über alle Stationen, bis der Koran niedergeschrieben wurde. Und es sind alles ehrenwerte Männer.“

„Zeugenaussagen gelten vor Gericht, als das unsicherste Beweismittel“, wirft der Skeptiker ein.

An dieser Stelle wirkt es, als würde Herr Petr ins Leere sprechen. Die Grenzen des Denkbaren sind erreicht.

Wo, so fragt sich der Mentor, sind eigentlich meine Grenzen des Denkbaren?

Bei einer späteren Begegnung legt eine unscheinbare Welle Nuris kulturellen Eisberg frei und Herr Petr erkennt für einen Moment dessen sonst unsichtbare Größe.

In irgendeinem Zusammenhang platzt es aus Nuri heraus: „Der zwölfte Mahdi wird kommen“, sagt Nuri mit der Sicherheit, die nur Gläubige haben, „das ist gewiss!“

Fasziniert sieht Herr Petr, bevor sich der größte Teil des Eisbergs wieder im Meer verbirgt.

Der zwölfte Mahdi, so wenig weiß Herr Petr, ist der Messias der Schiiten und er wird am Ende aller Zeiten kommen und zusammen mit Jesus ein Zeitalter der Gerechtigkeit einläuten.

Nuri wird nie wieder darüber sprechen.

Fortsetzung: Nuri und der Rechtsstaat (6)

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Nuris Wohnung (4)

Bisher erschien:
Nuri lächelt (1)
Nuri liest (2)
Nuri kämpft (3)

Das Telefon des Lehrerfreundes klingelt früh am Morgen. Er hebt ab und hört Gebrüll. Nuri am Apparat.

„Ich muss da rein.“
„Du musst hier gar nichts.“
„Lassen sie mich los.“
„Du hast hier nichts zu suchen, du kommst hier nicht rein. Erst in zwei Monaten.“
„Man hat gesagt, ich soll hierherkommen.“
„Nicht ohne Termin.“
Der Lehrerfreund hört ein Getümmel, er hört Gewalt. Es scheint als umklammerte jemand Nuri.

Etwas später, die atemlose, verzweifelte Stimme von Nuri.

„Ich bin vor der Ausländerbehörde. Sie lassen mich nicht rein. Sie tragen mich weg. Was soll ich machen?“

Nuris Verzweiflung springt durch die Telefonverbindung:
„Beruhige Dich, Nuri, beruhige Dich.“

„Ich habe angerufen, wie Sie mir gesagt haben und am Telefon haben sie gesagt, ich müsse vorbeikommen und jetzt lassen sie mich nicht rein. Warum sagen sie mir, dass ich vorbeikommen soll und dann lassen sie mich nicht rein?“

Und wieder öffnet sich für Nuri ein Abgrund des Nicht-Verstehens. Der ist diesmal kulturübergreifend. Selbst für den gemeinen Deutschen ist der Behördendschungel ein undurchdringliches, widersprüchliches Geflecht des kafkaesken Wahnsinns. Der Unterschied zwischen Nuri und dem Lehrer ist aber, dass es kein Sicherheitsmann je wagen würde, ihn, den Deutschen, wegzutragen.

„Was soll ich jetzt machen?“, klingt es aufgebracht durch das Telefon.

„Wir finden eine Lösung Nuri. Wir finden eine Lösung.“

Ein paar Tage zuvor hatte der Lehrerfreund, der von Nuri`s inzwischen mit ‚Herr Petr‘ angeredet wird, dem jungen Mann gesagt, dass er eine Wohnung für ihn habe. Ein Freund von Herrn Petr hatte berichtet, dass eine seiner Wohnungen leer steht. Eine kleine Einzimmerwohnung, in einem einfachen 50er Jahre Bau. Bezahlbar. Gute Lage.

Der Mentor fragt für seinen Schützling.

„Klar“, sagt der Freund unkompliziert, „sprich bitte mir Frau A. von der Hausverwaltung.“

Alles wird in die Wege geleitet.

„Ich bin der glücklichste Mensch von der Welt“, sagt Nuri.

Dann kommt der Anruf von Frau A.: Die Aufenthaltsgenehmigung von Nuri laufe in zwei Monaten ab, für so kurze Zeit könne man keinen Mietvertrag abschließen. Etwas naiv hatte der Mentor Nuri deshalb zur Ausländerbehörde geschickt. Er solle die Aufenthaltsgenehmigung vorzeitig verlängern lassen.

Das Ergebnis des Zwischenfalls: Keine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung, aber der Mentor hat eine Ahnung davon, welche Steine auf Nuris Weg liegen.

Nuri bekommt die Wohnung trotzdem, denn mit zwei Sätzen räumt der Wohnungsfreund von Herrn Petr das Problem aus dem Weg: „Mach den Vertrag. Im schlimmsten Fall vermieten wir in zwei Monaten nochmal.“

„Sie sind ein guter Mensch Herr Petr“, sagt Nuri und Herr Petr lächelt.

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Nuri wohnt in einem Flüchtlingsheim. Seit fünf Jahren. Er hat aufgegeben eine Wohnung zu suchen. „Es macht keinen Sinn. Ich lerne lieber. Ich stehe morgens um fünf Uhr auf und lerne, dann mache ich meinen Sport und dann fahre ich in die Schule. Es ist schrecklich in der Unterkunft“, erzählt er lächelnd, „aber dieses Land ist ein großartiges Land“, und wird ernst dabei. „Ich will studieren. Mathematik. Ich will ein Haus und fünf Kinder.“

Einer von Nuris Onkel, vor vielen Jahren ebenfalls geflüchtet, lebt in der Nähe des Bodensees, ist Arzt, hat ein Haus, drei Kinder und einen Hund. Nuri zeigt dem Lehrer Fotos. Es sieht nach bürgerlichem Wohlstand aus. Das ist Nuris Traum. Eine heile Welt in einem großartigen Europa. Der Traum treibt ihn an.

Die Flüchtlingsunterkunft ist keine heile Welt.

„Ich mache viel Sport. Kampfsport. Ich will meine Freunde beschützen, wenn sie angegriffen werden.“

Nuri ist ein zart gebauter, mittelgroßer Mann. Seine Bewegungen sind geschmeidig, aber wirken, als erwarte er jeden Augenblick einen Angriff. Voller Körperspannung. Ein wenig militärisch. Nicht aggressiv, aber wachsam. Sprungbereit. Seine Umarmungen bei der Begrüßung sind wie nebensächlich, wie in die Ecke geworfen.

„Ich muss stark sein. Wenn ein Freund angegriffen wird von einer anderen Person und du stehst dabei, dann musst du helfen. Dann musst du für ihn kämpfen, selbst wenn es fünf gegen zwei sind. Man darf ihn nicht allein lassen, selbst wenn es mich mein Leben kostet. Das ist meine feste Überzeugung.“

Diese Bemerkung lässt die Umrisse des riesigen Eisbergs auftauchen, mit denen Nuri zu kämpfen hat. Eintausenddreihunderteinundvierzig Jahre ist es her, dass sich der Urvater der Schiiten, Hussein, mit einundsiebzig Gefolgsleuten in die Schlacht von Kerbela aufmachte. Ihnen standen zehntausend Krieger gegenüber. Dieser aufopfernde, aber ziemlich idiotische Heroismus, ist seitdem das Symbol der Schiiten für den Kampf des Guten gegen das Böse. Dieser symbolische Wahnsinn ist über Jahrhunderte in Nuris Kopf eingesickert und prägt sein Denken. Seine Vorstellung von der Welt. Er will gut sein und Gutsein verbindet er mit dem Märtyrertod. Das ist gar nicht so unähnlich dem, was fast zweitausend Jahre Christentum im Kopf des Lehrers angerichtet haben. Im aufopfernden Leid berühren sich die beiden Welten, dennoch sind sie einander völlig fremd.

Natürlich ist es auch die Jugend, die aus Nuri spricht. Der Lehrer kennt das, auch er hat in seiner Jugend voller Überzeugung für eine gute Sache gekämpft. Damals hat er noch nicht ahnen können, dass Überzeugungen weitaus schlimmer sind als Lügen. Um das zu erkennen, braucht es Zeit und Schmerz.

Ob Nuri das gelingt? Der Lehrer hat Zweifel. Aber Nuri sucht. Das spürt er.

Fast vierzig Jahre liegen zwischen Lehrer und Schüler, vielleicht einer der Gründe weshalb zwischen ihnen Nähe und Vertrautheit entstehen kann. In Nuris Kultur gilt das Alter mehr. Es ist erstrebenswert alt zu sein. Dann ist man Patriarch. Weise. Respektsperson. Dort will er hin.

Nuri redet. Ihm läuft der Mund über. Außer dem Lehrer hat er niemanden, mit dem er die Fragen besprechen kann, die seinen Kopf bedrängen. Er kämpft mit seiner Vergangenheit. Mit seiner Familie. Mit seiner Kultur. Mit Deutschland. Mit Europa. Mit der Welt.
Aber vor allem – mit sich selbst.

Noch weiß er nicht, dass dieser Kampf der schwerste von allen ist.

Fortsetzung Nuris Wohnung (4)