Nuri lächelt (1)
…
Nuris Scham (8)
„Wir müssen uns treffen. Wann kannst Du?“, fragt Nuri in einer WhatsApp an Petr.
Sie verabreden sich am nächsten Tag in einem Kaffee am Markt. Petr ist als Erster da. Nuri lächelt nicht, als er kommt. Nach einer dieser merkwürdig distanzierten Umarmungen plaudern sie ein wenig, aber Petr spürt, dass etwas los ist.
Er fragt.
Und dann fliegen ihm die Splitter einer emotionalen Explosion um die Ohren.
Petr versteht nichts, außer der Wut. Nuris Wut. Nuri ist plötzlich ein Fremder. Nicht mehr der freundliche Junge von nebenan. Da brodelt ein Vulkan aus Gewalt und Zorn und Verzweiflung. Ein ähnlicher Zustand wie Petr ihn bei den jungen afghanischen Männer vermutet, die mit Messern durch die Straßen laufen, um auf jemanden einzustechen.
Wie kann das sein? Was ist mit Nuri passiert?
Es sind nur wenige Fragmente, die Petr versteht. Der Vater. Die Taliban. Sie stellen den Vater vor Gericht und wollen ihm sein Vermögen stehlen. Sie verfolgen ihn. Sie quälen den schwer kranken Mann. Nuri will eine Waffe und nach Afghanistan fahren und sie umbringen. Töten. Er will den von ihm selbst zutiefst verachteten Vater rächen.
Das ist es, was Petr aus den spärlichen Puzzleteilen zusammensetzen kann. Es ist ein Bild, von dem er nicht sicher ist, ob dieses Bild überhaupt etwas mit der Realität zu tun hat.
Aber der Zorn ist da. Klar und eindeutig. und Herr Petr fragt sich, ob dahinter nicht eine viel größere Wut steckt.
Nuri sagt immer: „Deutschland ist ein großartiges Land“. Er lebt in diesem Paradies. Seine Mutter, seine Schwester, sein Bruder, sein Vater aber leben in der Hölle.
Macht ihn das so verzweifelt?
Hat er Schuldgefühle? Schuldgefühle wie die Holocaustüberlebenden, die darunter leiden, dass sie leben, während die anderen sterben mussten?
Oder ist es ein tiefsitzendes Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn Qen? Eine Mentalität, die tief verankert ist in seiner Religion, eine Religion, die die Brutalität des Lebens in der Wüste in sich aufnahm. Aufnehmen musste.
Oder sind es diese unsichtbaren Bande der Familie, die alles umschlingen und erdrücken und die selbst tausende Kilometer entfernt noch wirken, wie die Fäden der Marionette an denen er baumelt?
Oder ist es der Zorn darüber, dass es nicht möglich ist, aus Afghanistan ein ebensolches Paradies zu schaffen wie hier. Und warum ausgerechnet geht das in Deutschland, obwohl hier die Ungläubigen leben?
Oder ist es die Vorstellung, dass nur der Westen für das Unglück armer Länder verantwortlich ist? Vielleicht alles zusammen.
Petr ist entsetzt, denn auf ihn wirkt Nuri nun wie einer der jungen, afghanischen Messerstecher. Nuri macht ihm Angst.
Erst versucht Petr Nuri zu beruhigen. Aber Nuri ist in einem Tunnel. „Ich mache das und dann komme ich zurück.“
Petr erklärt Nuri, dass er dummes Zeug redet, dass er in Deutschland auch für Taten im Ausland bestraft werden kann, dass er seine Zukunft zerstöre. Er redet auf ihn ein. Immer und immer wieder.
Alles vergebens.
Irgendwann platzt Petr der Kragen, er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und sagt: „Nuri, ich erkenne dich nicht wieder. Wenn Du nicht aufhörst, gehe ich, dann können wir nicht befreundet sein. Das geht nicht. Du bis in einem Wahn. Komm zurück in die Realität“.
Erst da beruhigt sich Nuri.
Was passiert ist, beschäftigt Petr lange. Bei allen folgenden Treffen ist Nuri wieder der Alte. Charmant, neugierig, freundlich, lächelnd, zuvorkommend. Die andere Seite taucht nicht auf. Eines ist Petr klar: Auch in Nuri schlummert etwas Unsteuerbares.
Wie bei jedem von uns.